Maria und das Schwert in der Seele

Predigt über Johannes 19,25‑27 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wir richten unseren Blick jetzt auf eine einzig­artige Frau: auf die Frau, die den Gottessohn zur Welt gebracht hat. Wie kein anderer Mensch war sie Jesus nahe gewesen am Anfang seines Erden­lebens, bei seiner Geburt in Bethlehem. Und hier, am Ende seines Erden­lebens, war sie ihm wieder nahe. In seinen letzten Stunden, bei seinen letzten Atemzügen stand sie unter dem Kreuz und hat den Schmerz seines Sterbens wie kein anderer Mensch empfunden. Nur eine Mutter, die ihr Kind verloren hat, kann erahnen, was Maria da durch­machte. Zwar hat der Jünger Johannes, der daneben stand, nichts von ihren Gemüts­regungen in seinem Evangelium auf­geschrieben, aber durch einen anderen Mann wissen wir davon: Durch Simeon, den alten Propheten, der den Säugling Jesus einst im Tempel in die Arme genommen hatte, der dann Gott pries und der Maria schon damals prophe­zeite: „Durch deine Seele wird ein Schwert dringen“ (Lukas 2,35).

Ein außer­gewöhnlicher Schmerz einer einzig­artigen Frau – und doch ist Jesu Mutter Maria in gewisser Hinsicht beispiel­haft für uns. Sie ist es nicht nur deshalb, weil sie Jesus bis nach Golgatha gefolgt war, was wir ja im Geiste auch tun mit unseren Passions­andachten. Nein, in ihrem ganzen Leben können wir uns wieder­finden – ein Leben, das stets von ihrer Beziehung zum Herrn Jesus Christus geprägt war.

Vielleicht ist uns Maria am ver­trautesten in der Weihnachts­geschichte und von Krippen­spielen her. Da trat sie zuerst in Erscheinung als die junge Verlobte des Josef, die von einem Engel besucht wurde. „Begnadete“ nannte der Engel sie bei seinem Erscheinen; wir können auch sagen: „Be­schenkte“. Maria hat sich nicht selbst durch besondere Leistungen zu dem gemacht, was sie wurde, sondern sie ist von Gott damit beschenkt worden: Maria ist von Gott als Mutter des Heilands auserwählt und berufen worden. Demütig glaubend hat sie diese Gabe und diesen Auftrag aus Gottes Hand angenommen.

So wird an Maria deutlich, was in unserer Taufe geschehen ist. Da hat Gott uns ja ebenfalls beschenkt und berufen. Da sind wir Begnadete geworden, begnadet mit Gottes vergebender Liebe. Auch wir haben dieses Geschenk demütig glaubend angenommen für unser Leben, auch wir haben uns rufen lassen in die Nachfolge und in den Dienst des Herrn Jesus Christus.

Maria hat ihrem Sohn so gedient, wie es ihrem Beruf und ihrer natürlichen Beziehung zu Jesus entsprach. Sie hat ihn in jungen Jahren versorgt und erzogen, wie jede Mutter das mit ihren Kindern tut. Leicht war es nicht, denn gerade in der ersten Zeit war sie mit Josef und Jesus ein Flüchtling in Ägypten. Später hat sie Jesus in Glaubens­dingen erzogen und ist mit ihm zum Passafest in den Tempel gegangen, als er zwölf Jahre alt war. In diesem Zusammen­hang erfahren wir zum ersten Mal davon, dass sie wegen Jesus Schmerz in ihrer Seele empfand. Drei Tage lang hatten Maria und Josef Jesus aus den Augen verloren, drei Tage lang hatten sie ihn verzweifelt gesucht, dann fanden sie ihn endlich im Tempel bei den Gelehrten sitzen. Maria sagte da zu ihm: „Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ (Lukas 2,48) Als Jesus ihr antwortete, dass er doch im Hause seines Vaters sein müsse, da verstand sie das nicht, da hat sie vielleicht zum ersten Mal etwas Fremdes zwischen sich und ihrem Sohn gespürt.

Ach ja, wie oft verstehen auch wir unsern Herrn Jesus Christus nicht! Und wie oft haben ihn seine damaligen Jünger nicht verstanden! Das gehört zu einem Leben mit Jesus dazu: Dass wir ihn zuweilen nicht verstehen, und dass das für uns schmerzlich ist. Auch seiner Mutter ist es so ergangen.

Maria erlebte, wie Jesus erwachsen wurde. Sie erlebte, wie er die heimatliche Zimmermanns­werkstatt verließ und als Pediger auf Wander­schaft ging. Aber noch hatte sie nicht vergessen, dass er der eingeborene Sohn des himmlischen Vaters ist, noch vertraute sie darauf, dass er sein Volk erlösen würde. So war sie bei der Hochzeits­feier in Kana voller Zuversicht, dass Jesus helfen würde, als vorzeitig der Wein ausging. Als Helfer war er ja in die Welt gekommen, das hatte ihr doch damals der Engel noch vor seiner Geburt mitgeteilt. „Jesus“ sollte sie ihn nennen, hatte der Engel gesagt, und „Jesus“ heißt „Retter“.

Hier erleben wir Maria wieder als gutes Beispiel. Auch wir sollen Jesus ja in allen Lebenslagen als Helfer vertrauen. Er ist auch unser Retter – nicht nur der Retter aus dem ewigen Tod, sondern auch der Retter in den vielen kleinen und großen Nöten unseres Lebens. Wir tun gut daran, wenn wir ihm in jeder Hinsicht vertrauen. Und wir tun gut daran, wenn wir bei diesem Vertrauen auch Geduld haben und die Zeit abwarten, bis er helfen will. So war es ja auch damals in Kana gewesen: Jesus hatte seiner Mutter zunächst gesagt, dass seine Zeit zu helfen noch nicht gekommen war.

In den kommenden Monaten und Jahren muss eine Veränderung mit Maria geschehen sein, die das Neue Testament nur vorsichtig andeutet. Maria ist, so scheint es, in eine Glaubens­krise geraten. Immer un­verständ­licher wurde ihr, was Jesus sagte und tat. Sein merk­würdiger Ruhm irritierte sie: ein Wander-Rabbi, ein Wunder­heiler, ein Freund von Sündern und Zöllnern und Huren, ein Kritiker der frommen Juden seiner Zeit! Das sollte Gottes Messias sein, Gottes Erlöser für Israel und die Welt? Manchmal erweckte Jesus eher den Eindruck eines Spinners. Einmal, als Jesus und seine Jünger vor lauter Predigen den ganzen Tag lang nichts gegessen hatten, da meinte Maria mit Jesu Ge­schwistern: Jetzt ist er wohl völlig verrückt geworden! (Markus 9,20-21)

Ja, auch das kann es geben im Leben eines Christen: Zeiten des Zweifelns, Zeiten des Irre-Werdens an Jesus. Manch einer, der in seiner Jugend mit Feuereifer Jesus nachgefolgt ist und ihm blind vertraut hat, der ist sich in späteren Jahren gar nicht mehr so sicher, ob er auf dem richtigen Weg ist. Lieber Christ, wenn du das von dir selbst kennst oder wenn du das mit Sorge bei anderen bemerkst, dann wisse: Solche Zeiten des Zweifels können zu dem Weg dazugehören, den Gott einen Menschen führt. Vielleicht führt Gott diesen Weg nur deshalb, damit am Ende der Glaube desto fester und gewisser ist, gereift und geläutert. So ist es ja dann auch bei Maria gewesen.

Die erneute Wende in Marias Leben geschah an jenen drei ent­scheidenden Tagen, wo ihr Sohn am Kreuz der Welt das Heil gebracht hat und wo er dies mit seiner siegreichen Auf­erstehung besiegelt hat. Richten wir also noch einmal unseren Blick auf die Maria unter dem Kreuz.

„Es stand aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter“, lesen wir im Johannes-Evangelium. Andere Frauen waren bei ihr, das gab ein wenig Trost. Auch der eine Jünger stand dabei, der einzige, der es bis unters Kreuz ausgehalten hatte: Johannes. Alles, was wir nun über Maria lesen, ist etwas, das ihr geschah, das ihr widerfuhr. Jesus blickte sie an, Jesus sah zu ihr herab vom Kreuz. Und dann verfügte Jesus, dass Johannes sie zu sich aufnehmen soll, als wäre es seine eigene Mutter. Noch vom Kreuz herab kümmerte sich Jesus um seine Mutter, diente ihr, versorgte sie, redete auch mit ihr. „Frau, siehe, das ist dein Sohn!“, sagte er. In diesem Augenblick war Maria wieder ganz die „Be­gnadete“, die Beschenkte. Wenn auch das Schwert in ihrer Seele so sehr schmerzte, dass wir uns das kaum vorstellen können, spürte sie doch zugleich den Balsam der Sohnesliebe in ihrer Seele und auch den Balsam von Gottes Liebe.

Da stehen auch wir, liebe Brüder und Schwestern in Christus, stehen unter dem Kreuz Jesu. Und da werden auch wir beschenkt, da werden auch wir begnadet. Es geht gar nicht darum, wie uns zumute ist, was wir sagen, was wir tun. Nur eines zählt: Dass Jesus auch uns anblickt, liebevoll und gnädig. Dass er sich auch um uns kümmert. Dass er auch uns dient, dass er uns versorgt mit dem, was wir so nötig haben. Und schließ­lich, dass er auch zu uns spricht. „Dir sind deine Sünden vergeben“, das sagt er uns vom Kreuz herab. Wir sind dabei ganz passiv, nur empfangend. Aber wir spüren den Balsam der Liebe Gottes, der vom Kreuz herab in unsere Seele fließt.

Für Maria ist in den Tagen des größten Schmerzes der Glaube wieder groß geworden. Das gehört ja zu Gottes wunderbaren Wegen dazu, dass er den Glauben gerade durch Kreuz und Leid reifen und stark werden lässt. Maria hielt sich fortan zu den Jüngern, erlebte mit ihnen die Freude der Auf­erstehung, empfing mit ihnen den Heiligen Geist zu Pfingsten. Maria wurde Gemeinde­glied in der ersten christ­lichen Gemeinde in Jerusalem. Da hat sie treu ihren Glauben gelebt, ihren neu geschenkten Glauben. Und ganz egal, wie dein Lebensweg aussieht, was für Schwerter in deiner Seele stecken, was für Höhen und Tiefen von Glaube und Zweifel du hinter dir hast, da möchte Gott auch dich hinführen: dass du, beschenkt durch den Mann am Kreuz, in seiner Gemeinde bleibst, ihm vertraust, ihm nachfolgst und ihm dienst. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2010.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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