Pilatus und die Frage nach der Wahrheit

Predigt über Johannes 18,37‑38 in einer Passionsandacht

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

„Was ist Wahrheit?“, fragte Pontius Pilatus am Ende seines Verhörs mit Jesus. Er fragte das nicht, weil er anfing, sich für die Wahrheit zu inter­essieren, sondern weil er damit schon längst aufgehört hatte. Er fragte es abfällig, spöttisch, zynisch, vielleicht auch resigniert: „Was soll das schon sein, die Wahrheit? Wo kann man denn schon Wahrheit finden? Wenn man ihr begegnet, dann ist sie doch so sehr mit Irrtum und Lüge vermischt, dass niemand sie wirklich erkennen kann!“

In gewisser Weise hat Pilatus recht: Die Wahrheit ist in unserer Welt so sehr mit Irrtum und Lüge vermischt, dass es schwer­fällt, sie zu erkennen. Vor wenigen Monaten zum Beispiel wurde in Deutschland darüber diskutiert, was denn besser wäre: Steuern senken oder Steuern erhöhen? Von beiden Seiten gab es Argumente, die überzeugend klangen, und doch kann nicht beides zugleich die Wahrheit sein. Vor wenigen Jahrzehnten erschien hierzulande eine Zeitung mit dem Titel „Die Wahrheit“, das Zentral­organ der SED. Dabei wussten fast alle: In diesem Blatt sind Wahrheit, Irrtum und Lüge kunterbunt durch­einander­gemischt. Zu Zeiten des Pontius Pilatus gab es einen römischen Philo­sophen, der an einem Tage eine über­zeugende Rede für ein bestimmtes Thema hielt und am nächsten Tag vor demselben Publikum eine über­zeugende Rede gegen dasselbe Thema. Die Zuhörer waren völlig ver­unsichert: Was meint der denn nun wirklich? Was ist richtig? Was ist Wahrheit?

Pilatus war nicht dumm und auch nicht ungebildet. Er kannte die Philo­sophien seiner Zeit, und er hatte sich auf dieser Grundlage sein achsel­zuckendes „Was ist Wahrheit?“ schon seit längerem zurecht­gelegt. Es war für ihn auch am bequemsten so. Auf diese Weise brauchte er sich um nichts ein Gewissen zu machen, auf diese Weise brauchte er auch nicht nach Gott und den Menschen zu fragen. Die Wahrheit war ihm egal, ihm ging es nur um Macht und letztlich um den per­sönlichen Vorteil. Wir wissen, dass er in seiner zehn­jährigen Amtszeit als Statthalter des römischen Kaisers in der Provinz Judäa viel Grausames getan hat; Hin­richtungen ohne rechts­kräftiges Urteil waren an der Tages­ordnung. Auch hat er die frommen Juden mehr als einmal vor den Kopf gestoßen. Einmal hatte er sich am Schatz des Jerusalmer Tempels vergriffen, um eine Wasser­leitung zu seinem Palast zu finan­zieren. Wie gesagt: Wahrheit, Religion und Menschen­rechte waren ihm egal, nur der eigene Vorteil zählte.

Diesem Mann stand nun Jesus von Nazareth gegenüber: Ein über­nächtigter, miss­handelter junger Rabbi, von dem die führenden Juden be­haupteten, er sei ein Gottes­lästerer und müsse daher zum Tode verurteilt werden. Natürlich waren diese Juden klug genug um zu wissen: Das macht wenig Eindruck auf Pilatus, wenn man einfach nur sagt, dieser Mann ist ein Gottes­lästerer. Darum stellten sie es vor ihm so dar, als sei Jesus ein Aufrührer, der das jüdische Volk dazu anstacheln will, sich gegen das römische Reich und den römischen Kaiser zu erheben. „Er macht sich selbst zum König der Juden“, so klagten sie Jesus vor Pilatus an. In seinem Verhör fragte Pilatus Jesus danach. Jesus machte ihm klar, dass er keine irdischen Macht-Ambitionen hat. „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“, sagte er zu Pilatus. „Wenn's so wäre, würden meine Anhänger mit Waffen für mein Reich kämpfen; aber so ist es eben nicht.“ Pilatus erkannte bereits zu diesem Zeitpunkt, dass Jesus politisch harmlos ist und dass die Anklage der führenden Juden daher nicht greift. Trotzdem hakte er nach und fragte: „So bist du dennoch ein König?“ Jesus bejahte die Frage, er sagte: „Du sagst es, ich bin ein König.“ Und dann knüpfte er an die Aussage über sein Reich an, das nicht von dieser Welt ist, und fuhr fort: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.“

In dieser Antwort von Jesus geht es um eine ganz andere Wahrheit als um die Menschen­wahrheit, die ja ständig unter Irrtum und Lüge zu zerbrechen droht. Hier geht es um Gottes ewige Wahrheit, um die vollkommene Wahrheit. Es ist keine Wahrheit, bei der etwas richtig ist und stimmt, sondern es ist die Wahrheit, bei der alles richtig ist und alles stimmt. Diese Wahrheit ist das ewige, helle Licht, von dem Gottes Reich durch­drungen ist. Jesus ist vom Vater aus diesem Himmelreich gesandt worden wie ein Lichtstrahl in unsere dunkle Welt. Hört noch einmal seine Worte vor Pilatus: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll.“ Und wenn dieses Wahrheits-Licht einen Menschen bescheint, dann rückt es ihn in Gottes Reich, in das Reich der Wahrheit. Dieser Mensch erkennt dann, dass er durch Jesus zur Wahrheit findet, und hört daher begierig auf das, was Jesus zu sagen hat. Jesus sagte: „Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme.“

An dieser Botschaft scheiden sich die Geister. Pilatus war schon lange fertig mit der Wahrheit und quittierte diese Worte des Herrn nur mit seiner berühmten abfälligen Frage: „Was ist Wahrheit?“ Er war keineswegs begierig darauf, der Wahrheit näher zu kommen, schon gar nicht der göttlichen Wahrheit. Im Gegenteil, er wird geahnt haben: Wenn ich mich auf Jesu Worte einlasse, dann stellt das mein ganzes bisheriges Leben in Frage. Wenn ich mich darauf einlasse, dann fällt ein blendend heller Lichtstrahl in mein dunkles Leben und macht sichtbar, was es da alles für Dreck gibt. Wie Pilatus das Licht der göttlichen Wahrheit scheute, so scheuen es noch heute viele Menschen. Schnell sind sie mit Jesus und der Bibel fertig. Sie sagen achsel­zuckend: „Was ist schon Wahrheit? Welcher Religion soll ich denn nun glauben? Und die Bibel ist schwer zu verstehen, voller Ungereimt­heiten.“ Ja, auch wenn die meisten nicht so skrupellos und grausam sind wie der echte Pontius Pilatus, gibt es doch auch in der heutigen Zeit viele Pilatusse.

Ihr aber, seid keine Pilatusse! Hört nicht resigniert auf, nach der Wahrheit zu fragen, sondern fangt immer wieder neu damit an! Sucht die Wahrheit, seid begierig nach ihr! Sucht die ewige göttliche Wahrheit, sucht das Wahrheits­reich Gottes und seines Königs Jesus Christus! Lasst ihn Licht in euer Leben bringen! Dann wird alles gut.

Jesus, das Licht der Welt, ist in unsere Finsternis gekommen. Er, der Davidssohn, ist zum König geworden eines Reiches, das auf keiner Landkarte verzeichnet ist und das doch überall dort anzutreffen ist, wo Menschen bei Jesus nach der Wahrheit suchen, wo Menschen auf seine Stimme hören. Jesus hat die Wahrheit dabei nicht nur gelehrt, sondern auch gelebt und sogar um ihrer willen gelitten. Ja, er hat um dieser Wahrheit willen gelitten, auch in diesem Verhör mit Pontius Pilatus, auch unter den qualvollen Peitschen­hieben, die seine Soldaten ihm zufügten. Er hat um dieser Wahrheit willen gelitten unter dem ungerechten Todesurteil des Römers, das dieser wider besseres Wissen und gegen alle Wahrheit gefällt hat. Er hat um dieser Wahrheit willen gelitten auf dem Weg nach Golgatha und am Kreuz. Dort triumphier­ten scheinbar Lüge und Finsternis, als die Sonne mitten am Tag ihren Schein verlor und Jesus vor Schmerzen verging. Aber tatsächlich triumphier­te Gottes ewige Wahrheit, die in Jesus Mensch wurde, um uns zu erlösen. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh. 14,6), so hatte Jesus gesagt. Und indem er durch die finsteren Machen­schaften des Wahrheits­feindes Pontius Pilatus verurteilt und hin­gerichtet wurde, öffnete er allen Menschen den Weg ins Reich der ewigen Wahrheit, den Weg zum himmlischen Vater, den Weg in die ewige Seligkeit, wo die Wahrheit tri­umphiert, un­vermischt, ohne Irrtum und Lüge.

Pilatus ist wenige Jahre später abgesetzt worden. Wahr­scheinlich starb er dann irgendwann eines gewaltsamen Todes; man weiß nichts Genaues. Sein Des­interesse an der Wahrheit, sein Fehlurteil und seine Grausamkeit haben allerdings ein un­rühmliches sprach­liches Denkmal erhalten. „Gelitten unter Pontius Pilatus“, so bekennen wir im Glaubens­bekenntnis. Er­staunlicher­weise ist Pilatus einer von nur zwei Menschen, die außer Jesus namentlich im Aposto­lischen Glaubens­bekenntnis genannt werden; der einzige Mann – neben der Jungfrau Maria. Freilich der Mann, der, ohne es zu wissen und zu wollen, zu einem Werkzeug Gottes wurde und dazu beigetragen hat, dass wir, für immer erlöst, im Wahrheits­reich des Königs Jesus Christus leben können. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2010.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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