Liebe Freunde!
In demselben Moment, als die Wohnungstür „klack!“ machte, wusste die alte Dame, dass sie einen Fehler begangen hatte. Sie wollte nur einen kleinen Spaziergang machen. Nun war ihr Haustürschlüssel noch in der Handtasche, die auf dem Schränkchen im Flur stand. Sie war ausgesperrt. Was tun? Zum Glück wohnte sie in einem jener Mietshäuser, die nicht irgendeiner anonymen Immobilienfirma gehörten, sondern wo der Besitzer noch selbst drin wohnte. Sie klingelte bei ihm, und er meldete sich über die Sprechanlage. Nachdem sie ihr Missgeschick gebeichtet hatte, sagte er: „Ist ja nicht so schlimm. Ich schicke eben meinen Sohn zu ihnen mit einem Ersatzschlüssel.“ Der Sohn des Hausbesitzers kam mit einem dicken Schlüsselbund, und im Nu war die Wohung der alten Dame geöffnet. Ihr fiel ein Stein vom Herzen.
Ein Stein kann auch uns vom Herzen fallen, liebe Freunde, denn es gibt auch für uns den Mann mit den Schlüsseln. Es ist der Sohn des himmlischen Vaters. Im letzten Buch der Bibel, in der Offenbarung des Johannes, da wird er uns so vor Augen gestellt, wie wir ihn zwar nicht sehen können, wie wir ihn aber glauben sollen. Er erschien dem Apostel Johannes durch eine Vision in überirdischem Glanz mit großer Herrlichkeit. Er erinnerte daran, dass er als Jesus von Nazareth am Kreuz gestorben und dann wieder ins Leben zurückgekehrt war. Er machte zugleich deutlich, dass er Gottes Sohn ist, der ewige Gott, den es schon immer gab und der nie aufhören wird zu sein. Er sagte: „Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.“
Was haben die Schlüssel zu bedeuten? Gehen wir noch einmal zurück zu unserer kleinen Geschichte vom Anfang: Der Sohn des Hauswirts hatte die Schlüssel zur Wohnung der alten Dame; er kam und schloss ihr auf. Das heißt: Er hatte eine gewisse Macht, und er nutzte sie, um der alten Dame zu dienen. Die Schlüssel sind Zeichen der Macht und zugleich Zeichen des Dienstes. Schon in ganz alter Zeit, lange bevor Jesus geboren wurde, gab es Schlösser und Schlüssel – zum Beispiel für Königspaläste und für Schatztruhen. Wer diese Schlüssel bei sich hatte, der hatte Macht, der hatte eine Vertrauensstellung. Zugleich war er aber ein Diener, der den befugten Leuten Räume aufschloss, vor den Unbefugten sie aber verschlossen halten musste.
Seht, dasselbe bedeuten die Schlüssel, die Jesus hat. Der Vater im Himmel hat sie seinem Sohn übergeben als Zeichen der Vollmacht. Jesus selbst hat gesagt: „Mir ist gegeben alle Vollmacht im Himmel und auf Erden.“ Zugleich aber sind diese Schlüssel Zeichen seines Dienstes, und zwar seines Dienstes für uns Menschen. Er kommt uns mit diesen Schlüsseln im Namen seines himmlischen Vaters zu Hilfe, wie der Sohn des Hauswirts von seinem Vater geschickt wurde, um der alten Dame zu helfen. Jesus ist mächtig und hilfsbereit zugleich, er ist unser Herr und unser Diener – das zeigen seine Schlüssel.
Nun wollen wir darauf achten, was Jesus denn mit seinen Schlüsseln auf- und zuschließt. Er sagt: „Ich habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.“ Für „Hölle“ steht da in der griechischen Originalsprache „Hades“. Wir könnten statt „Hölle“ auch „Unterwelt“ sagen, oder „Totenreich“, oder (in der Sprache des Alten Testaments) „Scheol“. Selbst „Gefängnis“ wäre eine zutreffende Übersetzung, denn der Apostel Petrus hat das Totenreich in einem seiner Briefe so genannt (1. Petrus 3,19). Den Tod können wir uns demnach wie einen Raum vorstellen oder wie einen Sicherheitsbereich in einem Gebäude, zu dem nur Jesus die Schlüssel hat. Dabei müssen wir berücksichtigen: Wenn die Bibel vom „Tod“ redet, dann meint sie sehr oft nicht das, was wir normalerweise darunter verstehen, also nicht das Aufhören des Lebens im biologischen Sinne. Wenn die Bibel vom „Tod“ redet, dann meint sie damit meistens den Bereich der Gottferne. Wer keine Gemeinschaft mit Gott hat, der ist im biblischen Sinne tot, auch wenn er noch lebt. Wer aber mit Gott Gemeinschaft hat, der lebt ewig, auch wenn er einmal biologisch sterben muss. Das, was wir „Hölle“ nennen, ist eigentlich die ewige Konsequenz eines Lebens ohne Gott. Wir können auch sagen: Es ist die ewige Strafe für die Sünde. Denn im Grunde genommen ist Sünde ja nichts anderes, als dass ein Mensch Gott die Gemeinschaft aufkündigt; er lässt ihn nicht Gott sein in seinem Leben. „Der Sünde Sold ist der Tod“, heißt es an anderer Stelle in der Bibel; also: Sünde führt in den Bereich der Gottferne (Römer 6,23).
Nun steckt ja leider in uns allen dieser unselige Trieb drin, dass wir uns von Gott emanzipieren wollen. Wir möchten gern selbstbestimmt leben, unser eigener Herr sein, unser eigenes Ding machen. Damit entfremden wir uns von Gott und begeben uns in den Bereich der Gottferne, in den Bereich des Todes. Und wir ahnen dabei meistens gar nicht, in was für eine Gefahr wir uns begeben und wie wir uns selbst das schöne Leben kaputt machen, das Gott uns zugedacht hat. Aber da kommt Jesus, der Mann mit den Schlüsseln, und schließt uns das Totenreich vor der Nase zu. Er dient uns damit, er beschützt uns vor den fatalen Folgen unserer Sünde. Er hat das getan, indem er selbst die Gottferne und den Tod geschmeckt hat, als er am Kreuz hingerichtet wurde. Das hat er für dich und für mich getan, damit wir Tod und Gottferne nicht schmecken müssen. Er hat uns auf diese Weise die Hölle zugeschlossen wie ein Trafohäuschen mit lebensgefährlicher Hochspannung, damit wir nicht blindlings in die tödliche Gefahr hineintappen. Er hat uns das Totenreich zugeschlossen wie einen heimtückischen Brunnenschacht, in den man hineinfallen kann, wenn man nicht aufpasst. Er hat uns den Tod verschlossen wie die Waggontür eines dahinrasenden Schnellzugs, damit wir nicht aus dem Zug fallen. Er hat gesagt: „Ich habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.“ Wir können ihm unendlich dankbar sein für seinen Dienst, denn er rettet uns das Leben!
Man kann nun dieses grandiose Schlüsselgleichnis auch herumdrehen und sagen: Wenn Jesus den Bereich der Gottferne zuschließt, dann schließt er damit zugleich den Bereich der Gottnähe auf. Er schließt uns das Leben auf, das nie enden soll. Er schließt uns das Himmelreich auf, den Palast seines himmlischen Vaters. Er schließt uns eine Schatzkiste auf voll unermesslicher Reichtümer – noch dazu Reichtümer, die keiner Wirtschaftskrise zum Opfer fallen können. Wir dürfen Leben die Fülle haben, wir dürfen jederzeit zu Gott kommen und mit ihm reden, wir dürfen bei Gott zu Hause sein. Also: Wenn der Mann mit den Schlüsseln das Totenreich zuschließt, dann schließt er zugleich das Himmelreich auf; die Totenreich-Schlüssel sind zugleich Himmelreich-Schlüssel.
Über die Himmelreich-Schlüssel sagt die Bibel nun auch noch an anderer Stelle etwas. Wir betrachten dazu ein Bild. Es zeigt den Apostel Petrus, den Oberjünger, der hier stellvertretend für die anderen Jesus-Jünger und für die ganze Christenheit steht. Und er hat offensichtlich zwei Schlüssel in der Hand. Die meisten Darstellungen des Petrus zeigen den Apostel mit Schlüsseln. Das kommt daher, weil Jesus dem Petrus einmal gesagt hat: „Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben“ (Matth. 16, 19). Dumme Menschen meinen, Petrus sei damit zum Wettermacher ernannt worden; wenn er den Himmel aufschließt, dann regnet es, und wenn er ihn zuschließt, dann bleibt es trocken. Aber die Schlüssel bedeuten in diesem Wort dasselbe wie in dem Jesuswort aus der Offenbarung: Sie stehen für Vollmacht und Dienst. Jesus hat dem Petrus und mit ihm der ganzen Christenheit die Vollmacht gegeben, für Menschen die Hölle zuzuschließen und den Himmel aufzuschließen. Das geschieht im weiteren Sinne immer dann, wenn Menschen durch Jesus in Gottes Reich geführt werden. Zum Beispiel in der Taufe: Da werden Sünden abgewaschen, ein Mensch kommt zum Glauben an Jesus, er findet durch ihn zu Gott und ins Himmelreich. Oder wenn Gottes gute Nachricht bezeugt wird: Menschen wird damit im Namen Jesu versprochen, dass sie, wenn sie an ihn glauben, ewig leben werden. Auch wenn ich hier jetzt über den Mann mit den Schlüsseln predige, dann tue ich das in der Vollmacht, die Jesus an seine Kirche weitergegeben hat: Ich lade jeden ein, an Jesus zu glauben und durch ihn zur herrlichen Gemeinschaft mit Gott und zum Leben zu finden. Und wer nicht getauft ist, den lade ich ein, sich taufen zu lassen und damit alles hinter sich zu lassen, was ihn von Gott und vom wahren Leben trennt. Petrus-Vollmacht und und Petrus-Dienst geschieht überall da, wo Menschen in Gottes Reich gerufen werden.
Nun kennt die Christenheit aber noch ein Schlüsselamt im besonderen Sinn, das von der Petrus-Vollmacht abgeleitet ist. Es ist die Beichte. Wir betrachten dazu ein weiteres Bild. Das Bild zeigt einen Ausschnitt des Altars der Wittenberger Stadtkirche; man kann das Original also gar nicht weit von hier besichtigen. Das Bild ist fast 500 Jahre alt und wurde von dem berühmten Lucas Cranach gemalt. Es stellt die Beichte dar. Die Person in der Mitte ist der Pfarrer, der die Züge des damaligen Wittenberger Stadtpfarrers Johannes Bugenhagen trägt. Rechts und links sind zwei Personen dargestellt, die zur Beichte kommen. Die Beichte wurde damals ausschließlich in der Form der Einzelbeichte geübt, also als seelsorgerliches Gespräch zwischen dem Beichtenden und dem Pfarrer. Luther hat diese Form der Beichte nie abgeschafft, sondern als wichtigen Ausdruck des Glaubenslebens betont. In der Beichte hat der Beichtende Gelegenheit, Sünden zu bekennen und seiner Reue Ausdruck zu geben. Daraufhin vergibt ihm der Pfarrer im Namen Jesu die Sünden. Genau das geschieht auf der linken Seite. Wer genau hinschaut, sieht den Löseschlüssel in des Pfarrers rechter Hand: Hier werden Sünden vergeben, hier wird die Hölle zugeschlossen und das Himmelreich aufgeschlossen. Wer noch genauer hinschaut, sieht, dass der Schlüsselbart den ersten und den letzten Buchstaben des griechischen Alphabets enthält, das Alpha und das Omega. Zusammen sind diese beiden Buchstaben ein Erkennungszeichen für den Mann mit den Schlüsseln, denn er hat von sich gesagt: „Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit“, und an anderer Stelle: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ (Offb. 22.13). Es ist eine wunderbare Sache, in der Seelsorge sein Herz auszuschütten, eigene Fehler und Sünden beim Namen zu nennen und dann diese ganze Last loszuwerden durch Christi Schlüssel, den er über Petrus seiner Kirche anvertraut hat: „Dir sind deine Sünden vergeben!“ Nichts anderes geschieht in der Beichte.
Aber da ist auf der rechten Seite auch noch der andere Beichtende. Was unterscheidet ihn vom ersten? Er trägt ein Schwert; er ist zu Gewalttaten bereit. Seine Hände sind gefesselt; er ist in Sünden gefangen und sieht nicht ein, dass er sich von ihnen lösen muss. Er kniet nicht nieder wie der Mann zur Linken; er ist zu stolz dazu; er will sich vor Gott nicht klein machen. Auch ist er halb abgewandt zum Gehen, will wohl Gottes Segen nur so im Vorbeigehen mitnehmen, damit seine Unternehmungen Erfolg haben. Der Pastor hält für ihn den anderen Schlüssel bereit, den sogenannten Bindeschlüssel, den Schlüssel ohne das Christussymbol. Damit zeigt er ihm: So im Vorbeigehen, so stolz, so ohne Reue, so gebunden von der Sünde kannst du keine Gemeinschaft mit Gott haben. Deine Sünden verurteilen dich, führen dich in die Gottesferne, in den Tod. Solange du nicht umkehrst, solange du deine Sünden nicht bereust, solange du dich nicht unter die Macht des Mannes mit den Schlüsseln beugst, kann dir nicht geholfen werden.
Ja, liebe Freunde, auch diese Seite dürfen wir nicht verschweigen, wenn wir über den Mann mit den Schlüsseln reden. Wer stolz leugnet, was er falsch gemacht hat, wer Gottes Gebote nicht als Maßstab für sein Leben annimmt, wer nicht die Macht Christi anerkennt und lieber sein eigener Herr sein möchte, dem kann im Namen Gottes nur verkündigt werden: Deine Sünden sind dir behalten; die Tür zum Himmelreich bleibt dir verschlossen, solange du dich nicht änderst. Wer sich aber nach der Nähe mit Gott sehnt sich nicht selbst etwas vormacht hinsichtlich seiner Sünde, der kann in der Seelsorge über die Beichte die Tür des Himmelreichs weit offen finden. Jesus selbst schließt sie ihm auf durch seine Boten in der Christenheit. Jeder Pfarrer ist bereit zur Seelsorge und zur Beichte, und jeder Pfarrer ist dabei zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet. Die Beichte ist freilich keine Pflichtübung und auch kein verdienstvolles Werk der Frömmigkeit, aber sie ist eine großartige Gelegenheit zu erfahren, wie der Mann mit den Schlüsseln an uns persönlich handelt, wie er für uns den Bereich des Todes zuschließt und den Himmel aufschließt, und das für alle Ewigkeit. Amen.
PREDIGTKASTEN |