Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Kennt ihr Herrn Turtur? Die Romanfigur des Kinderbuchautors Michael Ende in seinem berühmten Werk von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer? Herr Turtur, so heißt es in diesem Roman, ist ein Scheinriese. Das heißt: Eigentlich ist er nicht größer als andere Menschen. Aber während andere Menschen immer kleiner zu werden scheinen, wenn man sich von ihnen entfernt, so scheint Herr Tutur immer größer zu werden, wenn man sich von ihm entfernt. Sieht man Herrn Turtur nur von weitem, so meint man, einen turmhohen Riesen zu erblicken.
Nun ist so etwas in unserer realen Welt ja völlig unmöglich. Das heißt, physikalisch ist es unmöglich. Im übertragenen Sinn kann es aber durchaus Scheinriesen geben. Menschliche Feher und Schwächen können zum Beispiel Scheinriesen werden. Sie scheinen um so größer zu sein, je weiter sie von uns weg sind. Wenn ich selbst einen Fehler mache, so scheint der klein und harmlos zu sein, falls ich ihn überhaupt wahrnehme. Wenn andere Menschen Fehler machen, so scheinen die gleich viel größer zu sein. Zum Beispiel kann ich mich furchtbar darüber ärgern, wenn Radfahrer auf dem Gehweg fahren, obwohl das doch verboten ist. Wenn ich selbst aber mit dem Auto mal schneller fahre als erlaubt, dann finde ich das nicht so schlimm. Das Fehlverhalten der anderen erscheint mir groß wie ein Balken, mein eigenes Fehlverhalten klein wie ein Splitter – ein typischer Fall von Scheinriesentum. Aber Jesus treibt mir dieses Scheinriesentum aus mit seinem Gleichnis vom Balken und vom Splitter. Er sagt mir: Dein eigener Fehler, den du unmittelbar vor deinem Auge hast, der müsste dir groß erscheinen wie ein Balken, den darfst du auf keinen Fall übersehen. Die Fehler der anderen, die weiter weg sind, sind dagegen klein wie Holzsplitter.
Jesus hat dieses Gleichnis im Zusammenhang einer Predigt erzählt, in der er über unser Verhältnis zu den Mitmenschen redete. Der erste Satz unseres Predigttextes ist gewissermaßen die Überschrift dieser Predigt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“ So, wie der himmlische Vater uns mit nachsichtiger Liebe und Güte begegnet, so sollen wir auch unseren Mitmenschen begegnen. Wir sollen sie nicht lieblos richten – eigentlich steht da „kritiseren“, denn dieses deutsche Wort ist aus der griechischen Sprache entlehnt. Wir sollen sie erst recht nicht „verdammen“, wir sollen also kein endgültiges Urteil über sie fällen: „Bei dem ist Hopfen und Malz verloren.“ – „Dem ist nicht mehr zu helfen.“ – „Der ist verloren, der kann nicht mehr in den Himmel kommen.“ Vielmehr sollen wir vergeben, so wie Gott uns durch Jesus Christus die Sünden vergibt. Noch einmal: Wir sollen barmherzig sein, wie der himmlische Vater zu uns barmherzig ist.
Wenn ich in einen Laden gehe, dann will ich freundlich bedient werden. Ich mag keine muffeligen Verkäuferinnen und Verkäufer. Und ich verlange, dass mir der Verkäufer seine Aufmerksamkeit schenkt und nicht gerade mit der Kollegin quatscht, wenn ich eine Frage habe. Ja, an diesem hohen Maßstab messe ich Verkäufer. Nun sagt Jesus: „Mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.“ Da fragt mich Jesus also: „Bist du selbst denn immer freundlich mit den Leuten, die zu dir kommen?“ Und da muss ich zugeben: Ich bin auch manchmal muffelig. Und da fragt Jesus mich: „Schenkst du denn deinen Mitmenschen die volle Aufmerksamkeit?“ Und da muss ich zugeben: Nein, oft bin ich abgelenkt, mit den Gedanken ganz woanders. Und da merke ich, dass ich gar keinen Grund habe, mich über unfreundliche Verkäuferinnen und Verkäufer aufzuregen. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Es bewahrheitet sich die Regel: Wenn ich mit einem Finger anschuldigend auf jemand anderes zeige, dann zeigen drei Finger auf mich selbst. Und darum sollte ich mich zunächst um den Balken in meinem Auge kümmern, also um meine eigene Unfreundlichkeit, ehe ich mich über die Unfreundlichkeit anderer aufrege.
Wer bin ich denn, wenn ich andere kritisiere, aber selbst denselben Fehler habe? Ein Blinder bin ich dann, der einem zweiten Blinden sagen will, wo es lang geht. Jesus fragt dazu: „Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden nicht alle beide in die Grube fallen?“ Was ist aber in Bereichen, wo ich keine Fehler habe, der andere aber sehr wohl? Wo ich also kein Blinder bin, sondern ein Sehender? Nehmen wir zum Beispiel mal die Zuverlässigkeit: Ich denke, dass ich ein ziemlich zuverlässiger Mensch bin. Wenn man mich bittet, etwas zu erledigen, dann tue ich das auch. Habe ich dann nicht das Recht, unzuverlässige Menschen zu kritisieren? Dazu sagt Jesus: „Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister.“ Der Meister ist selbstverständlich Jesus selbst. Wenn nun ein Jünger so meisterlich vollkommen wie Jesus wäre, dann wäre er ihm ebenbürtig, aber nicht über ihm. Und was hat das zu bedeuten? Überlegt mal, wie Jesus mit den Fehlern seiner Mitmenschen umgegangen ist! Hat er sie lieblos kritisiert, hat er sie gerichtet und verdammt? Mitnichten! Er war liebevoll und barmherzig, und er hat ihnen vergeben. Also: Selbst wenn ich vollkommen zuverlässig wäre, hätte ich keinen Grund, unzuverlässige Menschen zu verurteilen; vielmehr müsste ich nach dem Vorbild Jesu liebevoll und barmherzig mit ihnen umgehen. Es kommt noch hinzu, dass ich nun eben doch nicht hundertprozentig zuverlässig bin, sondern dass auch ich immer mal wieder etwas vergesse und versäume, was ich hätte erledigen sollen. Und das sollte mir – siehe oben – ein Balken im Auge sein, viel größer als die Splitter der Unzuverlässigkeit der anderen.
Das mit der Barmherzigkeit und dem Nicht-Richten ist nun hoffentlich ganz klar. Aber damit ist noch nicht alles gesagt. Wenn wir hier stehen bleiben würden, dann könnten wir es uns bequem machen und sagen: Das macht ja nichts mit unseren Fehlern und Schwächen, das macht ja nichts mit unserer Sünde. Wir sind eben alles kleine Sünderlein. Und haben nicht unsere Schwächen etwas geradezu Liebenswürdiges an sich? Das macht ja nichts, dass wir blind sind! Aber so sollten wir nicht reden. Es macht sehr wohl etwas, wenn wir blind sind; es wäre besser, wir könnten sehen. Es macht sehr wohl etwas, wenn wir Sünder sind; es wäre besser, wir lebten heilig. Und wer Jesus kennt, der weiß, dass auch Jesus so denkt. Er hat ja die Blinden geheilt und die Sünder zur Umkehr gerufen. Und sein Gleichnis von Splitter und Balken endet nicht damit, dass der Fremdkörper im Auge bleibt, sondern er endet damit, dass beide, der Balken im eigenen Auge und der Splitter im fremden Auge, herausgezogen werden.
Dazu ist Jesus ist die Welt gekommen, dass er unsere Schuld vergibt. So zeigt uns Gott seine Barmherzigkeit. Dieses Geschenk sollen wir im Glauben annehmen. Darum ist es gut, dass wir den Balken in unserem Auge nicht nur wahrnehmen, sondern ihn auch von Jesus herausziehen lassen. Es ist gut, wenn wir uns immer wieder von ihm zusprechen lassen: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Und auf dieselbe Weise sollen wir auch unserem Mitmenschen helfen, seinen Splitter im Auge loszuwerden: Indem wir selbst barmherzig sind und ihm vergeben, und indem wir ihn auf Gottes Barmherzigkeit hinweisen, die durch Jesus Christus zu uns gekommen ist. Es wäre also nicht richtig, wenn wir den Splitter im Auge unseres Bruders einfach schweigend übersähen. Wir dürfen unseren Mitchristen durchaus auf seine Fehler hinweisen – aber bitte barmherzig, liebevoll, rücksichtsvoll, taktvoll, ohne zu richten und zu verdammen, im Bewusstsein der eigenen Fehlerhaftigkeit. Wenn wir das tun, dann handeln wir so, wie Jesus es uns selbst vorgelebt und im Gleichnis vorgelegt hat. Wie sagte er doch zum Schluss? „Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!“ Amen.
PREDIGTKASTEN |