Gottes Volk ist wie ein Weinstock

Predigt über Johannes 15,1‑8 zum Sonntag Jubilate

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Am vergangenen Sonntag haben wir den Hirten­sonntag gefeiert. Da haben wir an den wunder­baren Vergleich gedacht, dass Jesus unser guter Hirte ist, wir aber seine Herde. Auch heute, am Sonntag Jubilate, finden wir in der Evangeliums-Lesung wieder einen wunder­baren Vergleich für Jesus und die Christenheit. Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ Jesus gleicht einer Pflanze im Weinberg, wir Christen sind die Zweige an dieser Pflanze, die Wein­reben. Dieses Bild zeigt noch deutlicher als das Bild vom guten Hirten, dass wir mit unserem Herrn Jesus Christus unzertrennlich zusammen­gehören. Wir sind mit ihm gewisser­maßen zusammen­gewachsen. Christus und die Christenheit sind ein einziger lebendiger Organismus; er wird an anderer Stelle auch „Leib Christi“ genannt. Wir Christen sind ein Stück von Christus, und Christus ist ein Stück von uns. Die besondere Zusammen­gehörigkeit wird schon seit alter Zeit die „unio mystica“ genannt, auf deutsch „die geheimnis­volle Einheit“ von Christus und den Christen.

Wie der Vergleich von Hirte und Herde, so war auch der Vergleich von Weinstock und Reben den Zeitgenossen Jesu wohl vertraut. In Israel wurde viel Wein angebaut, und so wussten die meisten Menschen, wie ein Weinstock wuchs und wie der Weingärtner ihn pflegte. Schon im Alten Testament haben Propheten Gott mit einem Weingärtner verglichen, sein Vok aber mit einem Weinberg. Die meisten von uns haben nicht so eine genaue Vorstellung von Weinstöcken, Reben und der Arbeit des Weingärtners. Aber wir können uns das jetzt mit Jesu Worten vor Augen führen und zugleich betrachten, was das für unser Leben als seine Jünger bedeutet.

Unser Vater im Himmel ist der Weingärtner. Er hat seinen Sohn Jesus Christus in den Weinberg unserer Welt ein­gepflanzt, er hat ihn Mensch werden lassen. An diesem Weinstock Jesus Christus sprießen und wachsen nun immer neue Reben. Jedesmal wenn ein Mensch getauft wird, dann entsteht ein neuer Zweig. Alle, die wir hier getauft sind, sind Zweige am Weinstock Jesus Christus. Wir sind mit Christus zusammen­gewachsen, wir gehören zu ihm, und er gehört zu uns.

Ein Zweig am Stamm bleibt nicht immer gleich, sondern er wächst und entwickelt sich. So ist auch das Christen­leben ein ständiges Wachsen und Sich-Entwickeln. Es ist bemerkenswert, dass Jesus am Ende des Weinstock-Gleichnisses sagt: „Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger.“ Das sagt er zu Menschen, die ihm schon lange Zeit nachgefolgt sind: „… dass ihr werdet meine Jünger“. Jünger-Sein ist eigentlich ein andauerndes Jünger-Werden, eben ein Wachsen und Sich-Entwickeln. Das steckt schon im Wort „Jünger“ drin, denn „Jünger“ heißt „Lernender“ – einer, der noch nicht fertig ist, sondern sich immer noch weiter entwickelt. Das ist sehr tröstlich zu wissen: Wenn wir vieles von Gott und aus der Bibel noch nicht verstehen, wenn es an der Nächstenliebe hapert, wenn wir immer wieder über die Sünde stolpern – wir sind noch Lernende, noch Jünger, noch auf dem Weg des Jünger-Werdens, noch im Wachstum, noch in der Entwicklung.

Ein Zweig, der sich nicht mehr verändert, der ist tot, abgestorben. Er empfängt nicht mehr Saft und Kraft vom Weinstock. Eine solche Rebe wird vom Weingärtner abgeschnitten und weg­geworfen, denn sie kann keine Trauben hervor­bringen. So ist es mit allen Menschen, die zwar mal getauft wurden, die sich dann aber im weiteren Leben vom Weinstock Christus gelöst haben. Der Lebenssaft des Evangeliums durchströmt sie nicht mehr, denn sie hören nicht mehr auf Gottes Wort. Die Nähr­stoffe aus dem Stamm kommen nicht mehr zu ihnen, denn sie bleiben dem Heiligen Abendmahl fern. Wer sich so von Christus löst, der löst sich auch von der Gemeinschaft mit den anderen Reben, von der Kirche, von der Christenheit. Und umgekehrt: Wer in der Gemeinschaft anderer Christen nicht mehr auf Gottes Wort hört und das Abendmahl feiert, der löst sich vom Weinstock Christus selbst. Ein solcher Christ wird früher oder später geistlich vertrocknen und absterben; sein Glaube wird verkümmern, und die vom himmlischen Vater erwünschte Frucht wird ausbleiben. Am Gerichtstag wird er so eine tote Rebe dann endgültig abschneiden und wegwerfen.

Wenn wir aber am Weinstock Jesus Christus bleiben und an seinem Evangelium und an der Gemeinschaft der Christenheit, dann, wie gesagt, wachsen wir geistlich und entwickeln uns weiter. Dann stellt sich auch die erwünschte Frucht ein. Christus sagt: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ Er redet in der Einzahl von „Frucht“, nicht in der Mehrzahl von „Früchten“ oder „Trauben“ oder „Weinbeeren“. Das ist übrigens in der ganzen Bibel so: Wo der Glaube mit pflanzlichem Wachstum verglichen wird, da ist immer in der Einzahl von „Frucht“ die Rede, nie von „Früchten“. Die Bibel kennt keine Glaubensfrüchte, sie kennt nur Glaubensfrucht. Warum ist das so? Weil es tatsächlich nur eine Sorte oder Art Frucht gibt, die der Glaube hervorbringt – genauso, wie der Weinstock keine Stachel­beeren oder Pflaumen hervorbringt, sondern nur Weintrauben. Und was ist das für eine Frucht, die Glaubens­frucht? Es ist die Liebe. Mit dem Wörtchen „Liebe“ ist alles gesagt, was unser Christen­leben an Ertrag bringen soll. Die Liebe erfüllt auch alle Gebote. Jesus lehrte: Gott lieben und den Nächsten lieben, das sind die höchsten Gebote, davon leitet sich das ganze Gesetz Gottes ab. Und wenn er uns sagt: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht“, dann könnte es ebensogut heißen: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der liebt viel.“

Nicht viele Früchte sind es, sondern nur eine Frucht, und doch ist diese eine Frucht sehr vielfältig. Es ist eben genauso wie beim Wein. Da haben wir einmal die schönen, frischen, süßen Wein­trauben, eine wahre Köstlich­keit: große und kleine, grüne und blaue, mit oder ohne Kerne – die ver­schiedensten Sorten eben, aber alles Wein. So vielfältig erfrischend kann die Liebe sein: ein Lächeln, ein auf­munterndes Wort, eine kleine Auf­merksam­keit, all das ist Glaubens­frucht. Da haben wir ferner die Wein­beeren in getrockneter Form: Rosinen, Sultaninen, Korinthen. Sie halten lange, und sie enthalten die Süße des Weins in konzen­trierter Form. Das ist die reife und dauerhafte christliche Liebe, die sich bei vielen Christen zeigt. Da pflegt jemand einen kranken Angehörigen über viele Jahre hinweg aufopfernd in aller Stille, ohne zu klagen. Da arbeitet jemand ehrenamtlich in der Kirche mit, setzt Zeit oder Geld ein und trägt auf diese Weise dazu bei, dass Gottes Liebe mit dem Evangelium von Jesus Christus verkündigt wird. Oder da wird jemand nicht müde, für unzählige Mitmenschen die Hände zu falten und sie in liebender Fürbitte dem Vater im Himmel anzube­fehlen. Schließlich gibt es die Frucht des Weinstocks noch in flüssiger Form, heutzutage auch als Traubensaft, damals nur mit alko­holischer Gärung als Wein. Beim Wein merkt man nicht unbedingt die Süße der Frucht, es tritt vielmehr der charakte­ristische Geschmack des Alkohols hervor. Kenner nennen jene Weine besonders edel, die nicht süß, sondern eher herb sind – „trocken“, wie es heißt. Auch die Frucht des Glaubens kann manchmal etwas herb und trocken daher kommen, die Liebe: Liebe kann auch belehren und ermahnen, erziehen und strafen. Gott selbst ist so in seiner Liebe, heißt es in der Bibel. Auch Christus selbst hat seine Jünger öfter mal aus­geschimpft, hat sie als klein­gläubig und trägherzig bezeichnet, und hat sie dabei doch unendlich lieb gehabt. Liebe ist nicht immer süß und nett, sondern manchmal eben auch ernst und herb. Der Kenner weiß sie in dieser Form besonders zu schätzen, er nimmt gern Belehrungen und Ermahnungen an, weil er erkennt: Das bekommt ihm besser als oberflächliche Komplimente.

Christus sagt: „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ Viel Frucht? Viel Liebe? Ach, wie gering ist meine Frucht, wie dürftig meine Liebe! Aber, wie gesagt, wir sind ja Jünger, wir sind noch im Werden, wir sind noch keine Meister. Nur, dass wir uns nicht irre machen lassen! Das Auf­fallendste bei einem Weinstock sind ja die Trauben, ist die Frucht. Da ist man leicht versucht, sich selbst und andere Christen nur nach der Frucht zu beurteilen und zu meinen, wenn sich jemand ordentlich Mühe gibt mit der Liebe, dann wird er schon ein anständiger Christ werden. So ist das aber keines­wegs. Wer sich einfach nur Mühe gibt, ein liebevoller Mensch zu sein, und wer dabei ehrlich bleibt, der wird irgendwann verzagen und merken, wie wenig er mit eigener Kraft erreicht. Das weiß Christus auch, und darum fügt er die Worte an: „Ohne mich könnt ihr nichts tun.“ Nicht auf unsere mehr oder weniger kümmer­liche Liebes­frucht sollen wir acht haben, sondern auf unsere Verbindung mit Christus! Saft und Kraft für gute Frucht kommen ja nicht aus uns selbst heraus, sondern aus Jesus Christus und aus seinem Evangelium. Entscheidend ist, dass er in uns lebt und wir mit ihm verwachsen bleiben. Entscheidend ist, dass wir von seinem Wort und seinen Gnaden­mitteln leben. Entscheidend ist, dass die Rebe mit dem Weinstock lebendig verbunden bleibt. Die Frucht wird sich dann schon von selbst einstellen. Es kann sogar sein, dass wir gar nicht viel merken von unserer eigenen Glaubens­frucht, so selbst­verständlich kommt sie dann. Jedenfalls wissen wir aus einem anderen Wort Jesu, dass sich am Jüngsten Tag viele Christen wundern werden, wenn Christus als Welten­richter ihre Glaubens­frucht vorzeigen wird, und sie werden dann fragen: „Wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich auf­genommen, oder nackt und haben dich gekleidet? Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?“ Der Herr aber wird dann antworten: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Und dann wird die Rebe nicht abgeschnitten und ins Feuer geworfen werden, sondern dann werden wir zusammen mit unserem Herrn in die ewige Freude eingehen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2009.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum