Vor Christi Richterstuhl

Predigt über 2. Korinther 5,10 zum Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Das kennen wir aus der Schule, dass wir beurteilt werden. Die Leistungen werden mit „sehr gut“ bewertet oder mit „gut“, mit „be­friedigend“ oder auch mit „mangel­haft“. Wenn ein Schüler nun meint, mit dem Schulabgang höre die Be­urteilerei auf, dann irrt er sich gewaltig: Auch in der nach­folgenden Berufs­ausbildung kommen seine Leistungen ständig auf den Prüfstand, und zum Abschluss gibt es das gewichtige Gesamt­urteil – sei es die Gesellen­prüfung, das Diplom oder ein anderer Abschluss. Schluss ist dann aber immer noch nicht mit dem Beurteilt-Werden. Im Theologie­studium sagte uns angehenden Pastoren ein Professor offen heraus, dass wir im späteren Amtsleben jeden Tag geprüft und beurteilt werden: von den Leuten nämlich, mit denen wir zu tun haben. Die geben zwar keine Zensuren, aber ihre Be­urteilungen können viel weiter­reichende Folgen haben als eine Zwei oder eine Vier auf dem Zeugnis. Wer sich um eine Arbeits­stelle bewirbt, wird vom Personal­chef schonungs­los beurteilt, und von dieser Beurteilung hängt viel ab für den weiteren Lebensweg. Wer wegen einer Straftat angeklagt wird, muss vor einen auf erhöhtem Podest sitzenden Richter treten, der ihn nach dem Maßstab des Gesetzes beurteilt und möglicher­weise eine Strafe verhängt. Alle Menschen werden von ihren Bekannten beurteilt, und da möchte keiner dumm dastehen; keiner will, dass man schlecht über ihn redet, ihn auslacht oder ihn gar links liegen lässt. Wer Auto fahren will, muss sowohl sein Theorie-Wissen als auch seine praktischen Fahrkünste einer strengen Beurteilung unter­werfen. Wer dann den Führer­schein hat, kann sich immer noch nicht zurück­lehnen, denn sein Fahr­verhalten wird weiterhin stichproben­weise überprüft und beurteilt. Es kann ihm auf der Autobahn passieren, dass er von der Polizei heimlich gefilmt wird. Dann winkt man ihn heraus und zeigt ihm das Video: Wie er zum Beispiel zu dicht auf den Vordermann aufgefahren ist, oder wie er die linke Spur blockiert hat, obwohl rechts frei war. Das Ganze endet dann meistens mit einer gebühren­pflichtigen Verwarnung oder mit einer Anzeige. Ja, unser ganzes Leben lang werden wir in vielfacher Hinsicht beurteilt und müssen auch immer wieder mit ent­sprechenden Konse­quenzen rechnen.

Eine letzte und umfassende Beurteilung wartet am Ende des Lebens auf jeden Menschen: „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richter­stuhl Christi“, so steht es in der Bibel. Auch im heutigen Evangelium haben wir davon gehört, im Gleichnis von den Schafen und den Böcken. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament ist Gottes Gericht am Jüngsten Tag vielfach bezeugt. Auch in den meisten anderen Religionen ist ein göttliches Gericht bekannt. Für den großen Philosophen Immanuel Kant war Gottes endgültige Beurteilung unseres Lebens sogar das ent­scheidende Motiv dafür, sich gut zu verhalten. Auch das Wort „Ver­antwortung“ bezieht sich in seiner tiefsten Bedeutung auf Gottes Gericht: Da muss jeder Mensch Rede und Antwort stehen vor Gott für alles, was er im Leben getan hat. „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richter­stuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse“, schrieb der Apostel Paulus. Das wussten die Menschen zu allen Zeiten, und auch heute spürt es jeder in seinem Herzen, wenn er nicht sein Gewissen durch atheis­tisches Gedankengut abgetötet hat. Das Jüngste Gericht ist eine Tatsache, an der kein Mensch vorbei kann. Auch jeder einzelne von uns, die wir jetzt hier versammelt sind, wird einmal vor Christus stehen und sich ver­antworten müssen. Christus, der Richter, sitzt dann gleichsam auf dem erhöhten Podest des Richters, auf dem „Richter­stuhl“, und wird uns unser gesamtes Leben offenbar machen. „Bücher werden aufgetan“, heißt es an anderer Stelle in der Bibel, und in diesen Büchern sind alle Taten der Menschen ver­zeichnet. Wenn die Bibel heute neu geschrieben würde, stünde da vielleicht: „Videos werden vorgeführt“ – dein und mein Leben als Video, so wie es die Polizisten auf der Autobahn machen. Aber egal, wie wir uns das vorstellen: An der Tatsache des Jüngsten Gerichts kommt keiner vorbei, ob er will oder nicht. Wir alle müssen einst vor Christus erscheinen und werden beurteilt werden.

Nun ist das ja nicht gerade eine angenehme Tatsache. Wer wird schon gern geprüft? Wer wird schon gern beurteilt? Wer kriegt schon gern Zeugnisse? Wer sieht schon gern Videos von sich selbst? Meistens ist das doch entsetzlich peinlich. Warum also reibt Gott uns das immer wieder unter die Nase? Warum beunruhigt er uns immer wieder mit der Ankündigung seines Gerichts?

Da gibt es auf den ersten Blick einen guten und wichtigen Grund. Es ist der Grund, den Immanuel Kant so wichtig fand: Wer an Gottes letzte Beurteilung denkt, gibt sich Mühe, ver­antwortlich zu leben. Und zwar nicht nur kurzsichtig ver­antwortlich, sodass die Menschen in seiner Umgebung das gut finden, sondern langfristig und grund­sätzlich ver­antwortlich, sodass es Gott gefällt und seinen Geboten entspricht. Wer eine Bank ausrauben will, denkt vielleicht, dass er mit dem vielen Geld herrlich und in Freuden leben kann, aber eines sollte ihm klar sein: Auch wenn er nicht erwischt wird, im Jüngsten Gericht wird er für seinen Diebstahl gerade stehen müssen! Der KZ-Aufseher, der Juden gequält und umgebracht hat, mag in den Augen seiner damaligen Vor­gesetzten gut und richtig gehandelt haben, aber sein Gewissen hätte ihm sagen sollen: Vor Gott kannst du das nicht ver­antworten! Der Apostel Paulus ist von einigen Christen in Korinth für einen Wortbrecher und Hochstapler gehalten worden; hier im 2. Ko­rinther­brief setzt er sich mit diesen An­schuldigun­gen aus­einander. Aber er macht den Korinthern auch klar: Wie andere Menschen mich beurteilen, ist gar nicht ent­scheidend; ent­scheidend ist, wie Christus mich einst im Jüngsten Gericht beurteilen wird. „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richter­stuhl Christi“, hat er ihnen ge­schrieben.

Auf den zweiten Blick sind wir versucht, das Thema abhzuhaken und zu sagen: „Ich lebe ja recht­schaffen, ich habe mir nichts vor­zuwerfen, und Gott kann mir auch nichts vorwerfen. Ich kann aufrechten Hauptes vor Christi Richter­stuhl treten und brauche mich nicht zu schämen für das, was auf meinem Lebensvideo auf­gezeichnet ist.“ Mein Fahrlehrer war so ein Mensch gewesen. Das hat mich manchmal auf die Palme gebracht, wenn ich hinterm Steuer saß und mich als Anfänger durch den Berliner Stadt­verkehr quälte, während mein Fahrlehrer neben mir seelenruhig seine selbst­gerechte Theologie entfaltete: „Ich kann vor Gottes Gericht bestehen mit meinem Leben!“ Es ist die Haltung des Pharisäers. Von Jesus wissen wir, dass nur derjenige so denken kann, der heuchelt, der sich selbst und anderen etwas vormacht. Ich möchte denjenigen sehen, der sich nicht schämen würde, wenn sein Lebensvideo auch nur im Kino seiner Heimatstadt vorgeführt wird, geschweige denn vor Christi Richter­stuhl am Jüngsten Tag!

Auf den dritten Blick könnte uns der Gedanke an Gottes Beurteilung also wieder verzagt machen. Braucht er aber nicht, denn wir kennen ja den Richter! Da wird ja kein unnahbarer Beamter sitzen, auch kein unbekannter und unberechenbarer Gott, sondern unser lieber Herr und Heiland Jesus Christus! Der wird am Ende des Lebens und am Ende der Zeit auf dem Richter­stuhl vor uns sitzen. Er wird uns barmherzig und liebevoll anschauen, so wie er einst den Petrus anschaute, nachdem dieser ihn verleugnet hatte. Gott der Vater hat die letzte und umfassende Beurteilung unseres Lebens aus­drücklich seinem Sohn Jesus Christus überlassen; so steht es geschrieben und so bekennen wir es auch immer wieder: „Er wird kommen, zu richten die Lebendigen und die Toten.“ Unser Richter ist unser Retter! Er wird auf seinem Richter­tisch neben den Beweis­mitteln noch ein anderes Buch liegen haben, von dem die Bibel berichtet: das Buch das Lebens. Darin sind alle Menschen ver­zeichnet, die durch Taufe und Glaube zu ihm gehören. Wer in diesem Buch steht, der wird nicht verurteilt, der wird nicht verdammt, der geht nicht verloren, das hat Gott hoch und heilig ver­sprochen. Selbst wenn das ganze Lebensvideo nur Mist zeigt, selbst wenn ein Mensch hoffnungs­los kläglich gescheitert ist mit seinem Leben und tief in Sünde verstrickt war, wenn er es bereut und Christus um Hilfe bittet, dann ist er gerettet und erhält den Lohn des ewigen Lebens. Nicht als verdienten Lohn, sondern als Gnadenlohn. An anderer Stelle hat der Apostel Paulus deutlich gesagt: Selbst wenn sich in Gottes Gericht heraus­stellen sollte, dass das Leben eines Christen wertlos war wie Stroh, wird er doch gerettet werden, wenngleich wie durch Feuer hindurch, durch das Feuer der quälenden Erkenntnis nämlich, was für ein Versager er doch gewesen ist (1. Kor. 3,12). Liebe Brüder und Schwestern, dies ist unsere Zuversicht: Weil der Richter der Welt zugleich unser Retter ist, wird letztlich nicht die Beurteilung unserer Werke den Lohn bestimmen, sondern die Erlösung, die Gott uns durch ihn geschenkt hat. Ja, zu­versichtlich dürfen wir an das Gericht denken, wenn wir zu Jesus gehören, in jedem Falle zu­versicht­lich!

Das macht uns Mut, noch einen vierten Blick auf das Jüngste Gericht zu werfen. Es ist der Blick, der sich uns vom Zusammenhang dieses Gottes­wortes her erschließt: „Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richter­stuhl Christi.“ Paulus schreibt, dass er eigentlich schon viel lieber im Himmel wäre, anstatt sich mit dem be­schwerlichen Erdenleben eines Apostels abzumühen. Aber anderer­seits nimmt er diese Mühe doch gern auf sich, weil er weiß: Das gibt ihm Gelegen­heit, Versäumtes nachzuholen und noch recht viel Dinge zu tun, die dem Herrn Jesus Christus Freude machen. Der Blick auf das Gericht lehrt ihn: Auch wenn wir allein durch den Glauben gerecht werden, so ist es dem Herrn Jesus Christus doch keineswegs egal, wie wir leben. Er wird sich trotz allem im Jüngsten Gericht die Mühe machen, unser Leben zu beurteilen, Gutes und Böses zu bewerten. Das muss doch ein Anreiz sein, noch möglichst viel Gutes zu tun, damit Christus sich freuen kann! So heißt es im Vers vor unserem Predigt­text: „Wir setzen unsere Ehre darein…, dass wir ihm wohl­gefallen“, und dann schließt sich das Wort an: „Denn wir müssen alle offenbar werden vor dem Richter­stuhl Christi, damit jeder seinen Lohn empfange.“ Bis es soweit ist, dass wir vor Christi Richter­stuhl stehen, können wir also unsere ganze Ehre darein setzen, ihm zur Ehre zu leben – das heißt: nicht, um uns selbst zu retten (das können wir gar nicht und das hat er ja schon für uns getan), sondern um ihm für seine wunderbare Rettungstat zu danken. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2008.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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