Liebe im Lichte Jesu

Predigt über 1. Johannes 2,7‑11 zum 22. Sonntag nach Trinitatis

Geliebte, ich schreibe euch hier kein neues Gebot, sondern ein altes Gebot, das es schon immer gegeben hat. Dieses altbekannte Gebot ist Gottes Wort (von der Nächsten­liebe). Und doch ist es eigentlich ein neues Gebot, was ich euch schreibe; das zeigt sich an Christus und an euch. Denn die Dunkelheit vergeht, und das wahre Licht scheint schon. Wer sagt, dass er im Licht lebt, und dabei seinen Mitmenschen schlecht behandelt, der lebt noch in der Dunkelheit. Wer aber seinen Mitmenschen lieb hat, der lebt im Licht und wird (deshalb auch) über kein Hindernis stolpern. (Wie gesagt:) Wer seinen Mitmenschen schlecht behandelt, der befindet sich noch im Dunkeln und tappt orien­tierungs­los herum, denn er kann nichts sehen.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Im Dunkeln sehen die meisten Dinge anders aus als im Hellen, oftmals viel be­drohlicher. So kann zum Beispiel ein Bagger im Dunkeln für ein kleines Kind wie ein Riesen­monster aussehen. Wenn das Kind dann bei Tage an derselben Stelle vorbeigeht, dann erkennt es: Das ist ja gar kein Monster, das ist ein Bagger. Diese Überlegung hilft uns, das Wort aus dem 1. Johannes­brief besser zu verstehen. Das Ding, um das es da geht, ist ein Gebot Gottes, ein uraltes sogar, das schon im Alten Testament steht. Die Zeit des Alten Testaments, also die Zeit vor Jesus, vergleicht der Apostel mit Dunkelheit, die Zeit des Neuen Testaments aber mit dem Tageslicht. Jesus hat ja auch selbst von sich gesagt, dass er das Licht der Welt ist. In diesem Licht sieht nun auch das alte Gebot plötzlich ganz anders aus. Es ist so, als hätten wir es mit einem ganz neuen Gebot zu tun. Darum sagt der Apostel Johannes, dass er hier einerseits ein altes Gebot auf­schreibt, anderer­seits aber eigentlich ein neues Gebot.

Bevor wir darüber nachdenken, warum denn dasselbe Gebot im Licht von Jesus Christus plötzlich ganz anders aussieht, wollen wir uns erst einmal klar machen, um welches Gebot es sich handelt. Es ist eines der beiden Gebote, die Jesus die wichtigsten genannt hat. Es ist das Gebot: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Das andere der beiden wichtigsten Gebote lautet übrigens: „Du sollst Gott mehr als alles andere lieben.“ In diesen beiden wichtigsten Geboten geht es um die Liebe, und da merken wir, dass die Liebe etwas ungeheuer Wichtiges ist.

Was aber meint Gottes Gebot mit „Liebe“? Um das zu erklären, muss ich zunächst einmal sagen, was Gottes Gebot nicht mit „Liebe“ meint. Gottes Gebot meint nicht Sex, auch nicht das Verliebt­sein von Mann und Frau, denn dafür gibt es in der Sprache der Bibel ein anderes Wort. Gottes Gebot meint auch nicht die Mutter­liebe, denn dafür gibt es in der Sprache der Bibel ebenfalls ein anderes Wort. Gottes Gebot meint auch nicht die Liebe, wenn einem ein anderer Mensch einfach sympathisch ist, denn dafür gibt es in der Sprache der Bibel wieder ein anderes Wort. Wenn Gottes Gebot von „Liebe“ spricht, dann ist damit nicht in erster Linie ein Gefühl gemeint, sondern ein Verhalten, ein Tun. Nächsten­liebe bedeutet: den Mitmenschen gut behandeln, und zwar ungezwungen und ohne sich davon einen Vorteil zu ver­sprechen. Das müssen gar keine besonders großen Taten sein, das kann sich in all­täglichen Situationen zeigen. Angenommen, du hast einen neuen Nachbarn bekommen, und der klingelt an deiner Tür und will sich deinen Schlag­bohrer ausleihen. Wenn du ihm die Maschine leihst, dann liebst du ihn – im biblischen Sinn! „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, das bedeutet also: Behandle deinen Mitmenschen so gut, wie du selbst behandelt werden möchtest.

Und nun komme ich zurück zu der Frage: Wieso sieht dieses Gebot im Licht von Jesus anders aus? In alter Zeit dachte man so, wie noch heute die meisten denken: Mein Nächster ist derjenige, mit dem ich zusammen­lebe, oder mein Freund, oder mein Volks­genosse, oder jemand, von dem ich irgendwie abhängig bin. Da ist es klar, dass ich ihn gut behandele, denn ich möchte ja auch, dass der mich gut behandelt. Als dann Jesus kam, sagte er: „Das ist ja selbstver­ständlich, wenn ihr eure Freunde und Verwandten liebt. Aber Gott möchte, dass ihr auch zu den anderen nett seid, zu den Fremden, zu den Ausländern, und zu all denen, zu denen ihr eigentlich keine guten Draht habt“ (vgl. Matth. 5,43‑47). „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, das soll bedingungs­los gelten für alle Leute, wer dir auch immer gerade über den Weg läuft. In der Geschichte vom Barm­herzigen Samariter trifft ein Samariter zufällig einen schwer verletzten Juden. Juden und Samariter konnten sich damals ebensowenig leiden wie heute Juden und Araber. Trotzdem leistet der Samariter Erste Hilfe, bringt den Juden zu einem Haus, wo er sich auskurieren kann, und gibt sogar noch Geld für ihn aus – der Samariter für den Juden! Da sehen wir das neue Gebot, nämlich das alte Gebot der Nächsten­liebe im neuen Licht: nicht nur die eigenen Leute gut behandeln, sondern alle, auch die, die man nicht mag!

Ich komme noch einmal zu der Bohr­maschinen-Geschichte zurück. Nehmen wir mal an, dein neuer Nachbar bringt die Bohr­maschine nicht wieder zurück. Am nächsten Tag nicht und am über­nächsten Tag auch nicht. Du erinnerst ihn freundlich daran, aber er stammelt irgend­welche unglaub­würdigen Ausreden. Du erinnerst ihn nach einer Woche noch einmal, aber er gibt dir das Gerät immer noch nicht zurück. Du hast inzwischen eine Stinkwut auf ihn. Du überlegst, was du tun kannst: Solltest du dir dein Eigentum mit Gewalt wieder zurück­holen, vielleicht mit Hilfe deines Bekannten, der ein richtiger Schlägertyp ist? Oder solltest du mit einer Anzeige drohen? Einen Rechts­anwalt ein­schalten? Von deiner Rechts­schutz­versicherung Gebrauch machen? Dieser Nachbar ist nun quasi zu deinem Gegner geworden, zu einem richtigen Feind! Noch einmal stellst du ihn energisch zur Rede, er soll jetzt sofort die Bohr­maschine wieder heraus­rücken. Da teilt er dir kleinlaut mit, dass er den Schlag­bohrer an seinen Freund weiter­verliehen hat, und der ist damit erst einmal verreist und kommt so bald nicht wieder. Dein Nachbar steckt also in einer Klemme; wahr­scheinlich kann er dir auch keine neue Bohr­maschine kaufen, bei all den Ausgaben, die er für den Umzug aufbringen muss.

Was tust du nun? Wenn du die Sache im Licht von Jesus be­trachtest, dann könntest du Folgendes zu deinem Nachbarn sagen: „Wissen Sie was, ich verzichte auf meine Bohr­maschine. Das olle Ding soll nicht zwischen uns stehen. Wenn es noch mal auftauchen sollte, können Sie mir's ja rüber­bringen.“ Wenn du das machst, dann liebst du deinen Nachbarn – im biblischen Sinn. Keiner kann von dir erwarten, dass du so handelst, und du hast auch keinen Vorteil davon, aber du tust es, weil du deinem Nachbarn auf diese Weise aus der Klemme helfen kannst. Natürlich hat er sich selbst in diese Klemme hinein­manövriert, er hätte die Bohr­maschine nicht weiter­verleihen sollen, aber das ist für die Nächsten­liebe egal. Ja, so könnte einer handeln, der im Licht von Jesus lebt. Denn Jesus hat gesagt, dass wir sogar unsere Feinde lieben sollen, im Sinne Gottes lieben, das heißt also: ihnen Gutes tun.

Und Jesus hat das nicht nur gesagt, sondern er hat das auch selbst so vorgelebt. Wie gesagt: Er ist als Licht in die Welt gekommen und hat gezeigt, was echte Liebe ist, Liebe im Sinne Gottes. Er hat sich ab­geschuftet und aufgeopfert für Sünder, also für Leute, die sich wie Feinde Gottes benehmen. Für Egoisten hat er sich aufgeopfert und für solche Leute, die überhaupt nicht nach ihrem Schöpfer fragen. Für alle Sünder hat Jesus qualvolle Leiden auf sich genommen, ja, sogar den schänd­lichen Tod am Kreuz. So hat Jesus uns Menschen geliebt. So hat er uns gezeigt, was wirklich Liebe ist. Darum ist das erste Wort in unserem Predigt­texte besonders wichtig. Wisst ihr noch, mit welchem Wort unser Predigttext anfängt? Es ist das Wort „Geliebte“. Wir sind Geliebte, weil Jesus uns liebt und uns das Größte schenkt, was er zu verschenken hat: die Vergebung der Sünden und das ewige Leben im Himmel­reich. Uns, die wir Sünder waren, Gottes Feinde! Wenn wir das im Glauben annehmen, dann leben wir im Licht. Und in diesem Licht erkennen wir, was Gottes Liebesgebot eigentlich bedeutet und wie großartig es ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Denn wer von Gott so nachsichtig behandelt wird, der kann gar nicht anders, der muss seinen Mitmenschen auch nachsichtig behandeln. Darum hat der Apostel Johannes ge­schrieben: „Wer sagt, dass er im Licht lebt, und dabei seinen Mitmenschen schlecht behandelt, der lebt noch in der Dunkelheit. Wer aber seinen Mitmenschen lieb hat, der lebt im Licht.“ Im Licht von Jesus sehen wir: Ein gutes Verhältnis zu unserem Mitmenschen ist viel wertvoller als eine Bohr­maschine.

„Ja, aber …“, kann man jetzt natürlich einwenden. „Ja, aber wird das dann nicht schamlos von den anderen ausgenutzt, wenn man so lebt, wenn man auf den eigenen Vorteil verzichtet und ganz darauf bedacht ist, dass es den Mitmenschen gut geht?“ Dieses Risiko besteht freilich. Nicht immer wird es so sein, aber manchmal schon. Wer im Licht von Jesus leben will, der muss auch bereit sein, Nachteile und Leiden um Jesu willen auf sich zu nehmen, „das Kreuz“, wie Jesus selbst es nannte. Aber wenn wir daran denken, wie sehr Jesus uns liebt hat und dass er uns nicht im Stich lässt, dann können wir das gern ertragen.

Und dann gibt es noch ein „Ja, aber …“: „Eigentlich sollte ich so leben, aber ich schaffe es einfach nicht. Ich lasse mich immer wieder von meinem Zorn hinreißen. Ich schiele immer wieder ängstlich auf meinen eigenen Vorteil, auf Kosten der Mit­menschen.“ Ja, das kenne ich bei mir selbst sehr gut. Wenn morgen tatsächlich ein Nachbar sich meine Bohr­maschine ausleiht und nicht wieder zurück­bringt, könnte ich dann so großmütig darauf reagieren? Ich bin mir nicht sicher. Und damit stellt sich dann die be­ängstigende Frage: Lebe ich überhaupt im Licht? Ist mein Glaube echt, oder bilde ich mir nur ein, ein Christ zu sein? Gottes Wort sagt doch klar: „Wer seinen Mitmenschen schlecht behandelt, der befindet sich noch im Dunkeln und tappt orien­tierungslos herum, denn er kann nichts sehen.“ Gottes Wort redet hier nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip von Dunkelheit und Licht, von schwarz und weiß, vom Christsein oder Nicht-Christsein. Es redet so, damit uns deutlich wird, worum es geht und in welche Richtung wir uns entwickeln sollen. In Wahrheit leben wir aber in der Zeit der Morgen­dämmerung. Es fängt erst an, heller zu werden, und wir beginnen erst, alles im neuen Licht zu sehen, wie es ja auch in dem Wort des Apostels Johannes heißt: „Die Dunkelheit vergeht, und das wahre Licht scheint schon.“ Martin Luther hat unser Christen­leben in dieser Welt daher treffend so be­schrieben: „Das christliche Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Fromm­werden; nicht Gesundsein, sondern ein Gesund­werden; nicht Sein, sondern Werden; nicht Ruhe, sondern Übung. Wir sind es noch nicht, wir werden's aber. Es ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber im Gang und Schwang. Es ist nicht das Ende, es ist aber der Weg. Es blüht und glänzt noch nicht alles, es bessert sich aber alles.“ Am Ende dieses Weges leuchtet dann der helle Tag, die himmlische Herrlich­keit, die uns Jesus mit seiner großen Liebe erworben hat. Und die Liebe ist es, die dann über alles das letzte Wort behalten wird, die Liebe im Sinne Gottes. „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.“ (1. Kor. 13,13). Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2008.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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