Eine Geschichte von Sünde und Gnade

Predigt über 2. Samuel 12,1‑15 zum 11. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wir alle kennen einsame Menschen, die sich ein Haustier halten: einen Hund, eine Katze oder auch nur ein Kaninchen. Mancher lächelt über solche Menschen, wenn sie das Haustier wie ein Baby ver­hätscheln, wenn sie mit ihm sprechen und es für ihren besten Freund halten. Aber wer sich in einen einsamen Menschen hinein versetzen kann, der weiß, dass ihm sein Haustier fast so lieb und wertvoll ist wie ein Mensch. Ent­sprechend groß ist dann auch die Trauer, wenn das Tier stirbt.

Um so ein Haustier geht es im Gleichnis des Propheten Nathan. Es handelt sich nicht um einen Hund oder eine Katze oder ein Kaninchen, sondern um ein Schaf. Sein Besitzer war ein armer Mann. Er musste lange sparen, um sich das Lamm kaufen zu können. Nun wohnte es in seinem Haus und war ihm so lieb wie eine Tochter. Sein Nachbar war reich und hatte viele Schafe – aber nicht als Haustiere zum Liebhaben, sondern als Nutztiere zum Verkaufen. Eines Tages geschah etwas Un­geheuer­liches: Der Reiche bekam Besuch und brachte es nicht übers Herz, eines seiner Schafe für den Gast zu schlachten. Offenbar war der Reiche ein zutiefst geiziger Mensch, dem jeder Euro leid tat, den er nicht verdienen konnte. Der Reiche war also vom Geiz besessen – hier merken wir schon, dass es in der ganzen Geschichte um Sünde geht. Die Sünde des Geizes, die im Herzen des Reichen schlum­merte, kam nun in dieser Situation ans Licht und zog die Sünde des Diebstahls nach sich: Der Reiche nahm dem Armen mit Gewalt sein Haus-Schaf weg und ließ es für seinen Gast schlachten.

Das ist das Wesen der Sünde: Eine Sünde zieht die andere nach sich; wie ein Krebs­geschwür breitet sie sich aus, und zwar immer von innen nach außen, von der Gesinnung des Herzens zum bösen Wort und zur bösen Tat. Willst du also deiner Sünde auf die Spur kommen, lieber Christ, dann gehe im wahrsten Sinne des Wortes in dich, erforsche dein Herz und sei dabei ganz ehrlich: Findet sich da Geiz? Hass? Habgier? Egoismus? Streit­sucht? Kritik­sucht? Genuss­sucht? Eitelkeit? Unversöhn­lichkeit?

Der Prophet Nathan hatte David die Gleichnis­geschichte so vor­getragen, als würde es sich um einen konkreten ju­ristischen Fall handeln, zu dem der König sein Urteil sprechen sollte. Das tat David denn auch ohne Umschweife. Er war zutiefst empört über den reichen Schurken, der es wagte, einem armen Mitbürger sein geliebtes Haustier wegzunehmen und zu töten, noch dazu ganz ohne Not, allein aus Geiz. „David geriet in großen Zorn“, heißt es in der Bibel. Der König urteilte: „Der Mann ist ein Kind des Todes, der das getan hat! Dazu soll er das Schaf vierfach bezahlen.“

Eigentlich sind das zwei Urteile, die David da fällt; zwei Strafen, die er dem Dieb auferlegt: erstens die Todes­strafe, zweitens die Erstattung. Und merkwürdig: sie stehen un­vermittelt neben­einander, die große und die kleine Strafe. Was hat denn ein Bußgeld noch für einen Sinn, wenn jemand sowieso zum Tode verurteilt ist? Aber mit diesem doppelten Urteil kriegen wir Einblick in Davids Herz – ein Herz, das auch nicht frei von Sünde war. Die vierfache Erstattung war die reguläre Strafe beim Diebstahl von Kleinvieh, wie sie im Gesetz des Mose vor­geschrieben war. Im zweiten Mosebuch heißt es: „Wenn jemand ein Schaf stiehlt und schlachtet's, so soll er vier Schafe wieder­geben“ (2. Mose 21,37). David kannte sich aus im Gesetzbuch Israels und fällte mit dieser kleinen Strafe ein vorschrifts­mäßiges Urteil. Die andere Strafe, die Todes­strafe, war hingegen bei Vieh­diebstahl nicht vorgesehen, sondern bei Mord. David verhängte sie zusätzlich, gewisser­maßen aus dem Bauch heraus: Wenn einem armen Menschen sein ans Herz gewachsenes Haustier weggenommen und getötet wird, dann ist das doch so, als ob man eines seiner Kinder mordet! Oder etwa nicht?

Nein, es ist nicht so. Bei allem Verständnis für Haustier-Freunde: Ein Haustier ist kein Mensch und das Schlachten eines gestohlenen Haustiers ist kein Mord. Man möchte dem David zuzurufen: Bleib auf dem Teppich, König! Natürlich ist das eine große Schweine­rei, was der Reiche da gemacht hat, aber die Todesstrafe hat er dafür nicht verdient. Lasst es uns ganz offen aus­sprechen: David hat ein Fehlurteil gefällt mit seinem berühmten Satz: „Der Mann ist ein Kind des Todes!“ Er hat sich durch seinen Zorn, durch sein Bauchgefühl dazu hinreißen lassen, ungerecht zu richten. Dabei sollte er doch ohne Ansehen der Person richten, allein nach dem Sach­verhalt, allein nach dem Gesetz, das Gott gegeben hatte.

Wie gesagt, es geht um Sünde in dieser Geschichte. Hier sehen wir, wie David durch die Sünde des Zorns in seinem Herzen zu einem ungerechten und harten Urteil gelangt. Und auch hier wollen wir wieder innehalten und uns selbst fragen: Wie oft urteilen wir denn un­barmherzig hart über andere? Oder verurteilen sie gar, bestrafen sie ungerecht – vielleicht mit lieblosen Worten, vielleicht mit Entzug von Liebe, mit Nicht­beachten, so als wären sie tot für uns? Wie leicht lassen wir uns von unserem Zorn leiten, von einem ungerechten Bauch­gefühl? Wie stark wirkt es sich aus, wenn uns jemand un­sympathisch ist oder wenn wir kein Verständnis für die Sünden unserer Mitmenschen haben, weil sie in einem ganz schlechten Licht dastehen? Wie leicht lassen wir uns be­einflussen von der Boulevard-Presse und anderen Medien, wenn sie berichten nach der Masche „Geiziger Reicher mordet Lieblings­haustier von armen Rentner“?

Aber der Höhepunkt unserer Sünden-Geschichte kommt ja erst noch. Denn David, der sich da so übermäßig über den reichen Dieb empört, wird nun selbst als viel schlimmerer Verbrecher enttarnt. Geiz, Zorn, Vieh­diebstahl und falsche Recht­sprechung sind harmlos im Vergleich zu dem, was der König selbst in den zurück­liegenden Wochen getan hatte. Er war zum Ehebrecher geworden, hatte einem seiner treusten Unter­gebenen heimlich die Frau aus­gespannt. Und um diese Tat zu vertuschen, war er auch nicht davor zurück­geschreckt, diesen treuen Uria umbringen zu lassen. Danach hatte er dessen Frau Batseba in seinen Harem auf­genommen, um seine Beziehung zu ihr zu legali­sieren. Auf Ehebruch und Mord stand nach dem Gesetz des alten Bundes die Todes­strafe. Das überzogene Urteil, das David dem reichen Dieb zugedacht hatte, das hatte er selbst verdient: „Der Mann ist ein Kind des Todes!“ Kurz und knapp enttarnt der Prophet Nathan den König (im Hebräischen sind es nur zwei Wörter): „Du bist der Mann!“ – Du bist derjenige, der die Todesstrafe verdient hat, denn du bist ein Ehebrecher und Mörder! Die Parallele zum Gleichnis ist klar: Wie der Reiche im Gleichnis viele Schafe hatte, so hatte David einen ganzen Harem voller Frauen (in der Beziehung war David nicht anders als alle Könige seiner Zeit, und die Frauen im Harem galten eher als Status­symbol denn als Partne­rinnen für einen gemeinsamen Lebensweg). Dennoch nahm er unter Ausnutzung seiner Macht einem Schwächeren dessen einzige Frau einfach weg – die eine Frau, die der andere doch liebte und mit der er bis ins Alter glücklich sein wollte. Um wie viel größer war Davids Schuld als die Schuld des fiktiven Reichen! Wie gesagt, da geht es nicht um Vieh­diebstahl, da geht es um Ehebruch und Mord.

Ja, auch das zeigt die Geschichte über die Sünde: Wie streng und un­barmherzig urteilen wir über die Sünden anderer, auch wenn sie oft viel kleiner sind als die Sünden, die in unserem eigenen Herzen wohnen und vielleicht auch hin und wieder zum Ausbruch kommen! Vor den Menschen mag es gelingen, diese Sünden zu tarnen – wenn man listig ist, wenn man Geld oder Macht hat. Vor Gott aber bricht irgendwann die ganze verlogene Fassade zusammen, und übrig bleibt ein erbärm­licher Mensch, der die Sünden der anderen richten will und dabei selbst viel schlimmer dasteht. Wir müssen an Jesu Wort denken vom Splitter im Auge des Bruders und vom Balken im eigenen Auge (Matth. 7,3‑5), oder an sein Wort an die Schrift­gelehrten, die eine Ehe­brecherin steinigen wollten: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie“ (Joh. 8,7). Wir sitzen alle im selben Boot, wir sind alle verstrickt in das un­entwirrbare Knäuel von Sünde, das die Welt durchzieht – wer wollte sich da über den anderen erheben? Auch dann, wenn die böse Wurzel der Sünde im Herzen verborgen bleibt und keine bösen Taten nach sich zieht wie bei David?

Auf die Sünde folgt die Strafe: Der Sünder hat sein Recht auf Leben verwirkt bei Gott. „Der Mann ist ein Kind des Todes. – Du bist der Mann!“, das gilt für alle Sünder, denn „der Sünde Sold ist der Tod“ (Römer 6,23). Ent­sprechend kündigt Nathan Gottes tödliches Gericht über David und sein ganzes Königs­geschlecht an. Das ist die harte Konsequenz von Gottes Gesetz: Sünde gebiert Strafe und Tod; darum ist unsere sünden­verseuchte Welt zugleich eine von Leid und Tod gezeichnete Welt.

Aber nun ist diese Geschichte nicht nur eine Geschichte über die Sünde, sondern letztlich eine Geschichte über die Gnade. Gottes Gnade nimmt da ihren Anfang, wo der Heilige Geist einen Sünder erleuchtet und ihm Klarheit schenkt über seinen wahren Zustand. Mit Sünden­erkenntnis und Reue beginnt Gottes Gnadenwerk bei einem Menschen. So war es auch beim König David. Nach dem Urteils­spruch des Nathan bekannte er: „Ich habe gesündigt gegen den Herrn.“ Auf dieses Bekenntnis hin durfte der Prophet den König von seiner Sünde los­sprechen. Er verkündete ihm: „So hat auch der Herr deine Sünde weg­genommen; du wirst nicht sterben.“

Liebe Gemeinde, das geschieht immer wieder, das geschieht auch noch heute und bei uns: Gottes Gnade leitet uns zur Buße; wir bekennen unsere Sünde und erfahren, dass sie vergeben ist und wir nicht sterben müssen. Immer wieder können wir es in der Beichte erfahren; die Beicht ist gewisser­maßen das Herzstück des Christen­lebens. Auch die anderen Gnaden­mittel leben von dieser Gnade, angefangen von der Taufe über die Predigt bis hin zum Heiligen Abendmahl. Und dass wir uns dieser Gnade ganz gewiss sein dürfen, das hat auch mit David und mit Nathan zu tun. Gottes Gnade bedeutete ja für David, dass er selbst weiterleben durfte und dass sein Königs­geschlecht bestehen blieb. Damit aber lebte die Verheißung weiter, die Gott durch Nathan dem König schon zuvor gegeben hatte: Da würde einst aus dieser Familie der Davidssohn kommen, der Frieden bringen und ewig regieren würde. Durch ihn, den Davidssohn Jesus Christus, haben wir nun die Gewissheit, dass Gott all denen vergibt, die ihre Schuld bereuen und ihm vertrauen.

Ja, eine Geschichte von Sünde und Gnade ist es – von Sünde und Gnade bei David und bei uns. Freilich bedeutet Gnade nicht, dass nun alle Spuren der Sünde beseitigt wären. Nach dem Zuspruch der Vergebung mutete Gott dem David zu, dass sein geliebter Sohn, den er im Ehebruch gezeugt hatte, starb. Trotz Vergebung und Gnade weist Gott uns in dieser Welt immer wieder darauf hin, dass wir in Sünde, Leid und Tod verstrickt sind – aber nicht für immer. Denn auf David, alle Heiligen und uns wartet Gottes herrliche Zukunft, wo Sünde, Leid und Tod vergessen sein werden – um des Davids­sohnes Jesus Christus willen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2008.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum