Gottes ewiges Wort gibt Halt

Predigt über Psalm 119,89‑96 zum Sonntag Sexagesimä

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Gottes Wort ist wertvoll nicht nur wegen seines Inhalts, sondern auch wegen seiner Form. Ein besonders schönes Beispiel ist der 119. Psalm, der längste Psalm, und mit 176 Versen zugleich das längste Kapitel der Bibel. Dieser Psalm besteht aus 22 Strophen zu je 8 Versen – 22 mal 8 sind 176. Der hebräische Anfangs­buchstabe von jedem Vers ist in jeder Strophe gleich. Weil das hebräische Alphabet 22 Buchstaben hat (von Alef bis Tau), darum sind es 22 Strophen, für jeden Buchstaben eine. Der 119. Psalm wird daher auch „das güldene ABC“ genannt; so können wir es in der Lutherbibel als Überschrift nachlesen.

Unser Predigttext ist die 12. Strophe des Psalms. Jeder hebräische Vers dieser Strophe fängt mit dem Buchstaben Lamed an, das entspricht unserem L. In der deutschen Übersetzung ist das freilich nicht erkennbar. Aber etwas anderes kann man in der deutschen Übersetzung erkennen von der Art und Weise, wie hebräische Lieder und Gedichte kunstvoll geformt sind: Es werden dieselben Inhalte mit ver­schiedenen Worten mehrmals aus­gedrückt. Das mag uns vielleicht befremden oder sogar abstoßen, weil wir ja heute sowieso in einem Überfluss von Worten, Texten und Infor­mationen leben; da erschlägt uns die wieder­holende Art der Psalmen fast, oder sie sie könnte uns langweilen. In der Zeit, als die Psalmen entstanden sind, konnten aber die meisten Menschen überhaupt nicht lesen; sie waren aufs Hören angewiesen. Und da war die mehrfache Wieder­holung gut und hilfreich: Wer es beim ersten Mal nicht verstanden hatte, konnte es beim zweiten Mal verstehen. Auf diese Weise prägten sich die Inhalte zugleich gut ins Gedächtnis ein – man konnte es ja nicht ohne Schwierig­keiten nachlesen. Das will Gott mit seinem Wort erreichen, und so sollen wir noch heute damit umgehen: dass wir es gerne hören und lernen, dass wir es reichlich unter uns wohnen lassen – immer wieder, unser Leben lang. Gottes Wort soll sich tief in unser Gedächtnis eingraben, damit wir uns stets daran erinnern, damit wir stets diesen Trost und Halt bei uns haben, auch wenn gerade keine Bibel zur Hand ist.

Was ist es nun aber, das in dieser Strophe des 119. Psalms mehrmals wiederholt wird? Es sind Aussagen über Gottes Wort. Die Bibel redet hier also gewisser­maßen in eigener Sache. Nach Art der hebräischen Dichtkunst wird Gottes Wort hier mit mehreren ver­schiedenen Begriffen bezeichnet: „Wort“, „Wahrheit“, ‚“Ord­nungen“, „Gesetz“, „Befehle“, „Mahnungen“ und „Gebot“. Diese und weitere Begriffe tauchen im ganzen Psalm immer wieder auf und erwecken den Eindruck, dass er ein ziemlich gesetz­licher Text ist; dass es hier also um Gottes Anweisungen für unseren Lebensstil geht. Damit würden wir die Begriffe allerdings zu eng fassen – es geht hier eigentlich ganz allgemein um Gottes Wort und Wahrheit. Wenn wir genau hinschauen, können wir das erkennen. Da heißt es zum Beispiel: „Du hast die Erde fest gegründet und sie bleibt stehen. Sie steht noch heute nach deinen Ordnungen, denn dir muss alles dienen.“ Mit diesen „Ordnungen“ sind also nicht Befehle und Gebote gemeint, die Gott uns Menschen aufgetragen hat, sondern es ist sein Schöpfungs­wort gemeint. Er befahl dem Licht zu scheinen, und es schien; er gebot den Pflanzen, Samen zu bringen, und sie brachten Samen. Gottes Schöpfungs­wort, Gottes Verheißungs­wort, Gottes Trostwort, Gottes Mahnwort – all das ist Thema dieses Abschnitts und des ganzen 119. Psalms.

Diese Strophe betont besonders die Beständig­keit von Gottes Wort. „Dein Wort bleibt ewig“, heißt es da, und: „Ich habe gesehen, dass alles ein Ende hat, aber dein Gebot bleibt bestehen.“ Zur Ver­anschau­lichung wird auf die Natur­gesetze hin­gewiesen, die Gott durch sein Wort bei der Schöpfung in Kraft gesetzt hat und nach denen die Welt von Anbeginn unverändert funktio­niert. Der Mond und die Planeten zum Beispiel wandern auf un­veränder­lichen Bahnen am Himmel entlang, wie Gott es bei der Schöpfung durch sein Wort geordnet hat. Die Welt „steht noch heute nach deinen Ordnungen; denn es muss dir alles dienen.“ Gottes Wort ist so beständig wie Gott selbst; Gott sagt nicht heute Hü und morgen Hott; Gott steht zu dem, was er sagt, und lässt es genauso in Erfüllung gehen. Die Form des Psalms unter­streicht diese Aussage: Die vielen Wieder­holungen drücken Dauer und Beständig­keit aus.

Das Psalmwort betont die Beständig­keit von Gottes Wort auf dem Hintergrund mensch­licher Vergäng­lichkeit, ja, geradezu Flüchtig­keit. „Wie schnell doch die Zeit vergeht!“ – das ist eine Erfahrung, die der Mensch um so stärker empfindet, je älter er ist. Da gibt es Dinge, die sich täglich ändern, wie zum Beispiel das Wetter oder die Börsen­kurse. Da erfahren wir früher oder später die Zebrech­lichkeit unserer Gesundheit – wir können uns nicht unbegrenzt auf unser Herz und unsere Lunge verlassen, auch nicht auf die Schärfe unserer Augen und unsere Muskel­kraft, schon gar nicht auf die Belastbar­keit unseres Rückens und die Haltbarkeit unserer Zähne. Auch können wir die schönen Zeiten im Leben nicht festhalten oder Menschen, die uns viel bedeuten; einer nach dem anderen verlässt uns. Im Volk, zu dem wir gehören, verändern sich Lebens­gewohnheiten und Ge­sellschafts­ordnungen. So gehören heute nicht mehr Pünktlich­keit, Zuverlässig­keit und Gehorsam zu den höchsten Tugenden, sondern Teamfähig­keit, Toleranz und Selbst­darstellung. Und wenn man die christliche Kirche mal von ihrer mensch­lichen Seite betrachtet, so können wir auch da tief­greifende Ver­änderungen beobachten; das fällt mir gerade jetzt auf, wo ich mich für das bevor­stehende Gemeinde­jubiläum mit der Geschichte unserer alt­lutherischen Gemeinde in Fürsten­walde beschäftige. Es ist zum Beispiel hoch­interessant zu ver­gleichen, was für ein Verhältnis unsere Gemeinde mit ihrem jeweiligen Pastor zur gerade herrschen­den Obrigkeit hatte: Mitte des neunzehnten Jahr­hunderts ein gespanntes Verhältnis zum Preußen­könig Friedrich Wilhelm III., der die Alt­lutheraner verfolgen ließ; um die Jahr­hundert­wende ein ungetrübt loyales Verhältnis zum Kaiser; nach dem 1. Welt­krieg ein verwirrtes, ver­unsichertes Verhältnis; zu Anfang des Dritten Reiches die Illusion, Hitler werde die guten alten Zeiten des Vorkriegs-National­staats wieder­herstellen; dann das schreck­liche Zerbrechen dieser Illusion und eine große Hilf­losig­keit, damit umzugehen; dann der völlige Zusammen­bruch am Ende des 2. Welt­kriegs; dann das in ver­schiedenen Graden gespannte und wieder entspannte Verhältnis zur sozia­listischen Regierung; dann die deutsche Wieder­vereinigung mit ihren großen Hoffnungen, von denen sich wiederum viele nicht erfüllt haben… Ja, so leben und leiden wir in jeder Beziehung an Unbeständig­keit, Wankel­mütigkeit, Vergänglich­keit, auch unsere Gemeinde­geschichte macht das deutlich. Aber wir dürfen uns mit dem Psalmwort trösten: „Wenn dein Gesetz nicht mein Trost gewesen wäre, so wäre ich vergangen in meinem Elend… Ich habe gesehen, dass alles ein Ende hat, aber dein Gebot bleibt bestehen.“

Gottes Wort in seiner Beständig­keit ist ein Trost, ein Halt, ein Fels, ein fest verankertes Geländer, an dem wir uns festhalten können, wenn wir unsicheren Fußes durch die Zeiten gehen. Weil wir uns an Gottes Wort festhalten, werden wir gewiss: Gott hat es alles in der Hand; er hat es alles geschaffen und geordnet; er führt auch alles zu dem Ende, das ihm gefällt. Und das Schönste: Gottes Wort ist viel mehr als ein Haltegriff, ein Fels oder ein fest verankertes Geländer – es ist etwas Lebendiges, es ist die väterliche Hand, die die Hand des Kindes ergreift, die Trost und Sicherheit gibt. Gottes Wort ist Fleisch geworden in seinem Sohn Jesus Christus. Mit Jesus haben wir Gottes Wort lebendig und leibhaftig bei uns. In Jesus erfahren wir, was Gott uns aus dem tiefsten Grunde seines Herzens zu sagen hat: Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich lieb, ich schenke dir ewiges Leben – dir, dem wankel­mütigen, un­beständigen, hin- und her­gerissenen, ver­gänglichen Menschen! Denn Jesus selbst ist ewig wie Gottes Wort; er lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit. „Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit“ (Hebr. 13,8) – so heißt es in der Heiligen Schrift, und so stellen wir es auch ganz bewusst als Motto über die kleine und arme Geschichte unserer Gemeinde, die wir in diesem Jahr besonders bedenken wollen.

Gottes Wort hat ewig Bestand. Die Herrschaft unsers Herrn Jesus Christus hat ewig Bestand. Gottes Wort und die Herrschaft Jesu haben nicht nur Bestand, sondern sie geben uns auch Beständig­keit, verleihen uns das ewige Leben. Gottes Wort und die Herrschaft Jesu überwinden unsere Unbeständig­keit, unsere Wankel­mütigkeit, unsere Vergänglich­keit. In der Taufe hat Gott uns durch seinen Sohn zugesagt: Du bist mein geliebtes Kind, du sollst ewig leben. Dieses Versprechen kann ihn nicht gereuen, es hat ewig Bestand, denn es gehört zu seinem ewigen Wort. Und so gewinnen wir armen, vergäng­lichen Christen in einer menschlich gesehen armen und abnehmenden Gemeinde Anteil an Gottes Un­vergänglich­keit. Gottes Wort macht, dass wir ewig leben. Gottes Wort macht, dass die Pforten der Hölle seine Kirche nicht überwinden können, wie Jesus gesagt hat. Und so beten wir getrost mit unserem Psalmwort: „Die Gottlosen lauern mir auf, dass sie mich umbringen; ich aber merke auf deine Mahnungen.“ Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2008.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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