Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
„Ihr sollt leben!“, ruft Jesus uns am Anfang dieses neuen Jahres zu. Was meint er mit „leben?“ Er gibt damit keine Überlebensgarantie für unser leibliches Leben in dieser Welt. Keiner von uns kann sicher sein, dass er den Silvestertag dieses Jahres noch erleben wird; wir können nicht einmal mit Gewissheit sagen, dass wir den morgigen Tag erleben werden. Jesus gibt mit diesem Wort auch keine Garantie für eine bestimmte Lebensqualität, für einen bestimmten Lebensstandard. Manche von uns müssen sogar damit rechnen, in diesem Jahr ihren Gürtel enger zu schnallen. Und auch diejenigen, die für einen komfortablen Lebensstandard finanziell gut abgesichert sind, wissen nicht, ob nicht andere Einbußen in der Lebensqualität auf sie warten – etwa durch Krankheit, durch den Verlust lieber Menschen oder durch andere einschneidende Ereignisse, die man nicht voraussehen kann.
Trotzdem gilt das Wort des Herrn Jesus Christus für alle seine Jünger: „Ihr sollt leben!“ Es geht dabei nämlich nicht um das leibliche Leben und auch nicht um die Lebensqualität, es geht um das Leben in seinem tiefen und eigentlichen Sinn; Gottes Wort nennt es auch „das ewige Leben“. Es geht darum, ob wir mit Gott leben – egal ob wir bequem leben oder ob wir notvoll leben oder ob wir sterben. Es geht um die Verbindung mit unserem Schöpfer, der uns ins Leben gerufen hat. Tot im tiefen und eigentlichen Sinne ist der, der die Verbindung mit Gott verloren hat; lebendig im tiefen und eigentlichen Sinne ist der, der mit Gott in Verbindung steht; ganz unabhängig davon, ob unser Herz noch schlägt oder nicht, und ganz unabhängig davon, wie kräftig es noch schlägt. Dieses Leben mit Gott, dieses ewige Leben verheißt Christus seinen Jüngern mit dem Wort: „Ihr sollt leben.“
Aha, denkt jetzt der fromme Christ, dann will mich die Jahreslosung also ermuntern, auch im kommenden Jahr brav zu glauben und fromm zu leben, damit die Verbindung zu Gott erhalten bleibt und ich ewiges Leben habe. Da ist etwas Wahres dran – und trotzdem stimmt es nicht! Denn wer mit Aufbietung aller Willenskraft glauben und fromm leben will, wird dabei Schiffbruch erleiden. Der Teufel wird ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Er wird feststellen: Je mehr ich glauben will, desto angefochtener ist mein Glaube! Und: Je frömmer ich leben will, desto mehr erkenne ich, wie unfromm es eigentlich in meinem Herzen aussieht. Auch Martin Luther hat diese Erfahrung gemacht, als Mönch. Was hat er falsch gemacht? Wo ist das Problem?
Das Problem ist, dass da einer sein Leben selbst in die Hand nehmen will – das Leben im tiefen und eigentlichen Sinn. Er denkt, mit dem Glauben und mit dem ewigen Leben ist es ebenso wie mit dem leiblichen Leben in dieser Welt und mit unserem täglichen Leben: Man muss selbst etwas dafür tun – man muss Geld verdienen, man muss essen, man muss in Bewegung bleiben, man muss zum Arzt gehen, man muss seine Medizin nehmen, man muss für's Alter vorsorgen, man muss dies tun, man muss das tun…. Das sind alles Willensentscheidungen und Aktivitäten, die unser leibliches Leben mitbestimmen. Aber das Leben mit Gott, das Leben in seinem eigentlichen und tiefen Sinne, ist ganz anders. Wenn wir da etwas mit eigenem Willen und eigener Kraft anstreben, dann erreichen wir das Gegenteil. Denn dann erliegen wir der Illusion, die Quelle des Lebens sei in uns selbst. Wer dieser Illusion erliegt, der schneidet sich von der wahren Lebensquelle, von Gott, ab. Wer selbst sein Leben in die Hand nehmen will, der nimmt es Gott aus der Hand. Wer aus eigener Kraft glauben und fromm sein will, der erweist damit eigentlich seinen Unglauben, denn er vertraut dabei nicht auf Gott als Quelle des Lebens, sondern er sucht die Quelle des Lebens bei sich selbst, in seiner eigenen Glaubenskraft nämlich. Wer aus eigener Kraft das Leben im eigentlichen und tiefen Sinne finden will, der tut, wie die ersten Menschen taten bei der Ursünde: Aus eigener Willensentscheidung aßen sie vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, weil sie meinten, sie würden dadurch werden wie Gott; in Wahrheit aber schnitten sie sich damit von Gott, der Lebensquelle, ab und wurden sterblich.
Es ist so wie bei einem Radio, das wahlweise mit Batterie oder mit Netzstrom betrieben werden kann. Die Stromquelle ist sozusagen die Lebensquelle; sie bringt erst Leben ins Radio und macht es fähig, seinen Zweck zu erfüllen. Ein Mensch, der die Quelle des Lebens bei sich selbst sucht – in seiner eigenen Kraft, in seinen Fähigkeiten, in seinem Willen zum Erfolg, in seinem Glauben an sich selbst oder sogar in seinem religiösen Glauben – , der wird damit eine Weile leben können, so wie das Radio im Batteriebetrieb eine Weile spielt, aber früher oder später ist es aus damit. Ein Mensch dagegen, der in Verbindung mit Gott steht und sein Leben aus dieser Quelle speist, der gleicht einem Radio im Netzbetrieb; der ist angeschlossen an eine unerschöpfliche Lebensquelle; der hat ewiges Leben. Und da merken wir: Wenn Jesus sagt „Ihr sollt leben!“, dann ist das kein Appell unsere Willens- und Glaubenskraft, sondern dann ist das eine Zusage, ein Versprechen, ein Geschenk. Jesus verspricht damit, dass seine Jünger stets mit Gott, der Lebensquelle, verbunden bleiben sollen und so das ewige Leben haben. Das einzige, was diese Verbindung zunichte machen könnte, wäre, wenn ein Jünger sozusagen den Netzstecker zöge und auf Batteriebetrieb weiterlaufen wollte; wenn er also sein Leben durch eigenen Willen, eigene Glaubenskraft und eigene Frömmigkeit erhalten wollte. Davor bewahre uns Gott!
Damit wir vor solch dummen und gefährlichen Gedanken bewahrt bleiben, hat Jesus nicht nur versprochen: „Ihr sollt leben“, sondern er hat eine entscheidend wichtige Aussage vorangestellt: „Ich lebe!“ Er hat das ewige Leben seiner Jünger mit seinem eigenen Leben in Verbindung gebracht. Das Charakteristische am Jünger Jesu ist es ja, dass er nichts aus sich selber ist, sondern dass sein Lebenssinn darin besteht, in Gemeinschaft mit dem Meister zu leben. Über diesen Meister aber hat er Verbindung zum lebendigen Gott, zur Quelle des Lebens.
„Ich lebe“, diese kurze Aussage Jesu bedeutet weit mehr als nur die Tatsache dass er selbst, der Gottessohn, mit dem Vater in enger Verbindung steht deshalb selbst lebendig ist im tiefen und eigentliche Sinne. Er hat mit dieser kurzen Aussage zusammengefasst, was er seinen Jüngern im größeren Zusammenhang dieses Wortes ausführlich entfaltete. „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ (Joh. 14,9), hat er in diesem Zusammenhang gesagt, und: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh. 14,6), und: „Glaubt an Gott und glaubt an mich“ (Joh. 14,1). Er hat seinen Jüngern also deutlich gemacht, dass in ihm, dem Jesus von Nazareth, Gott selbst den Menschen begegnet, und nur in ihm. „Ich lebe“, das bedeutet in diesem Zusammenhang also: „Ich bin der lebendige Gott, der von Ewigkeit zu Ewigkeit lebt“ – so, wie er's dann später dem Johannes gegenüber wiederholt hat und wie es in der Offenbarung geschrieben steht: „Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige“ (Offb. 1,18). „Ich lebe“, das erinnert an Gottes Namen, mit dem er sich dem Mose am brennenden Busch und seinem Volk von alters her offenbart hat: JAHWE – ich bin, der ich bin – ich bin der eine lebendige Gott; der Gott, der warhaft ist, der wirklich existiert. Und dieser eine wahre lebendige Jahwe-Gott, der Herr und Schöpfer, der ist in Jesus Christus Mensch geworden. Wer auf Jesu Worte hört, hört Gottes Worte. Wer auf Jesu Leben achtet, der sieht Gottes Tun. Wer Jesu Liebe erfährt, der erfährt Gottes Liebe. Wer Gott finden will, der suche Jesus. Wer aber Jesus verachtet, der verachtet Gott. „Ich lebe“, sagt Jesus und meint damit: „Ich bin der lebendige Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit“.
Und nun schauen wir auf die Losung im Ganzen: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ Jesus verheißt allen seinen Jüngern das ewige Leben, das Leben in seinem eigentlichen und tiefen Sinne, das Leben mit Gott. Er verspricht es ihnen, weil sie zu ihm gehören und weil sie durch ihn angeschlossen sind an die Lebensquelle, den Vater im Himmel, den Schöpfer und Erhalter der Welt. Dieses Wort will uns Mut machen für das neue Jahr und uns gewiss machen, dass wir durch Jesus die Fülle des Lebens haben. In der Taufe hat er dir dieses Leben persönlich zugeeignet, denn in der Taufe bist du sein Jünger geworden. „Ihr sollt leben“ – ihr habt das ewige Leben durch Jesus Christus! Unabhängig davon, ob ihr in diesem Jahr viel Freude oder viel Sorge haben werdet. Unabhängig davon, ob ihr arm oder reich seid, krank oder gesund. Unabhängig davon, ob eure Pläne und Vorhaben gelingen oder ob ihr in mancherlei Hinsicht scheitert. Unabhängig davon, ob euer Glaube fest oder angefochten ist. Unabhängig davon, ob euer Glaube herrliche sichtbare Früchte hervorbringt oder nur sehr kümmerliche, sehr unscheinbare. Denn für euer Leben im tiefen und eigentlichen Sinn ist nicht wichtig, was ihr selbst schafft und hervorbringt, es ist nur eins wichtig: dass ihr durch den lebendigen Herrn Jesus Christus mit der Lebensquelle verbunden seid und bleibt. Amen.
PREDIGTKASTEN |