Unerwartete Gäste bewirten

Predigt über Lukas 9,10‑17 zum 7. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Meine Mutter erzählt manchmal nicht ohne Stolz davon, wie sie für unerwartete Gäste ein „Speisungs­wunder“ ver­anstaltet hat. Sie meint damit, dass sie von den schmalen Vorräten aus Kühlschrank und Keller eine schön an­gerichtete, abwechslungs­reiche und ausreichend große kalte Platte gezaubert hat; die Gäste freuten sich und wurden satt. Nun wird allerdings jeder Christ ein­schließlich meiner Mutter zugeben, dass zwischen dieser gast­geberischen Meister­leistung und der Speisung der 5000 durch Jesus doch gewaltige Unter­schiede bestehen und dass das Wort „Speisungs­wunder“ daher für Ersteres nur im über­tragenen Sinn gelten kann. Denn dass da bei Betsaida ein richtiges göttliches Wunder passiert ist, davon bin ich überzeugt. Die Menschen hatten wirklich nur fünf Brotfladen und zwei Fische zur Verfügung; sie wurden wirklich alle satt; die Reste füllten wirklich zwölf Körbe. Aber eine Gemeinsam­keit besteht doch: In beiden Fällen ging es darum, in einem Haushalt unerwartete Gäste zu bewirten. Jesus und seine Jünger lebten ja wie eine Familie, wie ein Haushalt zusammen, mit gemeinsamen Mahlzeiten und gemeinsamer Kasse – auch wenn sie keinen festen Wohnsitz hatten. Jesus hatte nach an­strengenden Tagen vorgehabt, sich mit seinen Jüngern in die einsame Gegend von Betsaida zurück­zuziehen, damit man mal unter sich war und damit man viel Zeit hatte zum Beten und Ausruhen. Aber eine große Menschen­menge war Jesus und seinen Jüngern nachgezogen und überfiel diese „Familie“ gewisser­maßen mit ihrem Besuch. Jesus erwies sich als guter Gastgeber, ließ die Leute zu sich kommen und gab ihnen das, was sie bei ihm suchten: Er redete mit ihnen von Gott, er heilte die Kranken und er gab ihnen schließlich auch zu essen. Das ist die zeitlos gültige Haupt­botschaft dieser Geschichte: Jesus hilft allen, die zu ihm kommen, und macht sie satt. Das dürfen wir auch noch heute von Jesus wissen und glauben: Jesus hilft allen, die zum ihm kommen, und macht sie satt. Aber wie er die Leute satt macht, das verdient genauere Beachtung. Und darin erkennen wir drei Grundzüge bei der Bewirtung von un­erwarteten Gästen, die noch heute bemerkens­wert sind – sowohl in wirklichen Haushalten als auch in der „Familie“ der christ­lichen Gemeinde und Kirche. Diese drei Grundzüge heißen Ver­pflichtung, Verlegen­heit, Vertrauens­sache.

Also erstens die Ver­pflichtung. Als die Leute bei Jesus hungrig wurden, wollten die Jünger sie einfach weg­schicken. Sie wollten sich der Gastgeber­pflichten schnell entledigen – wie eine Hausfrau, die hofft, dass ungeladene Gäste möglichst schnell wieder ver­schwinden, spätestens vor der nächsten Mahlzeit. Aber Jesus sagte seinen Jüngern: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Das ist eine allgemeine Ver­pflichtung für Jünger Jesu; Gottes Wort erinnert uns vielfältig daran: „Speist die Hungri­gen!“, heißt es, und: „Seid gast­freundlich!“ Wenn wir wirklich Christen sein wollen, kann uns der Hunger anderer Menschen nicht egal sein – nicht nur der Hunger nach Lebens­mitteln, sondern auch der Hunger nach anderen wichtigen Dingen, zum Beispiel der Hunger nach Trost und Zuwendung. Der Auftrag Jesu „Gebt ihr ihnen zu essen!“ bezieht sich auf die hungrigen Nächsten, also auf diejenigen Menschen, die gerade jetzt in unserer Nähe sind und die gerade jetzt unsere Hilfe brauchen. Ich weiß, es gibt auch den sogenannten „fernen Nächsten“, der möglicher­weise noch viel hungriger ist; den sollen wir auch nicht vergessen. Aber es besteht die Gefahr, dass wir uns einen Nächsten nach unserem Geschmack heraus­suchen, vielleicht ein schwarzes Kind mit traurigen Augen, auf dem Reklamefoto einer Hilfs­organisation, in sicherem Abstand von uns lebend, wo wir dann bequem eine Spende überweisen oder eine Einzugs­ermächtigung erteilen können. Das ist nicht verkehrt; nur hüten wir uns davor, über den fernen Nächsten den nahen Nächsten zu vergessen: den Menschen, der wirklich an unserer Wohnungstür klingelt oder der bei uns anruft und der uns mit seiner Notlage nervt. Ich kenne das aus eigener Erfahrung, sowohl als Familien­vater als auch als Pastor: dass zum Beispiel aus­gerechnet jemand dann meine Hilfe braucht, wenn ich gerade mal für eine kleine Weile nur für meine Familie da sein will. Oder dass Menschen zu unserer Gemeinde stoßen, die nicht unserem Wunschbild entsprechen die zum Beispiel, anstatt Gemeinde­beitrag zu zahlen, noch Geld benötigen; oder die, statt im Gottes­dienst den Gemeinde­gesang zu stärken, eher störend auffallen. Trotz allem bleibt die Ver­pflichtung unseres Herrn Jesus Christus: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Helft den Menschen, die bei euch Hilfe suchen – auch wenn sie unerwartet kommen, oder sogar ungelegen.

Nun will ich mal annehmen, dass wir dieser Ver­pflichtung auch nachkommen wollen, dass wir also unserem Nächsten wirklich helfen wollen. Jedoch geschieht es dann, dass ein großes Aber aufsteht: „Ich will ja helfen, aber ich kann nicht!“ Damit sind wir beim zweiten Grundzug der Bewirtung un­erwarteter Gäste, das ist die Verlegen­heit. Diese Verlegen­heit, dieses „Wir können nicht!“, haben auch die Jünger damals vor der Speisung der fünftausend Leute ganz stark gespürt, und das war wohl auch der Grund, warum sie die Leute schnell wieder loswerden wollten. Als Jesus sie an ihre gast­geberische Verpflich­tung erinnerte, erwiderten sie: „Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische, es sei denn, dass wir hingehen sollen und für alle diese Leute Essen kaufen.“ Das war natürlich eine völlig unmögliche Möglich­keit, denn das hätte ihre finanziel­len Mittel hoffnungs­los über­fordert! Aber was waren schon fünf Brotfladen und zwei Fische angesichts tausender von Menschen? Das war nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein! Die Ver­pflichtung, die ungebetenen Gäste alle angemessen zu bewirten, über­forderte die Jesus-Familie also hoffnungs­los; sie brachte sie in große Verlegen­heit. Solche Verlegen­heiten kennen auch wir nur allzu gut. Da wenden sich Menschen an uns und bitten um Hilfe, aber wir haben nicht, was sie brauchen. Wir haben nicht genug Geld, wir haben nicht genug Zeit, wir haben nicht genug Kraft, wir haben nicht genug Nerven. Wir würden liebend gern helfen, aber wir können es einfach nicht, wir sind hoffnungs­los über­fordert. Auch ich kenne diese Verlegen­heit aus eigener Erfahrung sehr gut, und zwar wiederum sowohl als Familien­vater als auch als Pastor. Ich merke, dass ich mit meiner Familie anderen nicht in der Weise familiäre Nestwärme vermitteln kann, wie es in anderen Pastoren­haushalten gelingt. Und ich merke auch, wie unsere Gemeinde und unsere ganze Kirche weder genug finanzielle Mittel hat noch genug Personen, um die Liebe Jesu Christi in dem Maße in unserem Umfeld weiter­zugeben, wie es wünschens­wert wäre. Ja, unsere Verlegen­heit ist groß, wenn wir helfen wollen, das empfinden wir nicht anders als die Jünger damals vor der Speisung der Fünf­tausend.

An dieser Stelle wollen wir ganz genau darauf achten, wie Jesus selbst mit der Verlegen­heit umgeht. Er ist ja sozuagen der Hausvater in der Jünger­schar, der Ver­antwort­liche. Jesus lässt sich durch die offen­sichtliche Verlegen­heit nicht entmutigen. Gegen den äußeren Anschein entwickelt er Zuversicht: Er lässt seine Gäste Platz nehmen, so, als könnte er ihnen sogleich eine ausgiebige Mahlzeit servieren. Da sind wir beim dritten Grundzug der Bewirtung un­erwarteter Gäste, und den erkennen wir am Verhalten Jesu selbst: Bewirtung ist Vertrauens­sache. Dieses Vertrauen ist keine Sorglosig­keit und auch nicht einfach positives Denken, es ist kein Selbst­vetrauen und nicht einfach Optimismus, sondern dieses Vertrauen beruht auf dem innigen Verhältnis zum Vater im Himmel. Jesus hat das ganz klar gezeigt: Da sitzen tausende von hungrigen Menschen im Gras, da liegen fünf Brotfladen und zwei Fische vor ihm, und was tut er? Er sieht auf zum Himmel. Er ist in diesem Augenblick ganz bei seinem Vater. Nicht die Verlegen­heit bestimmt ihn in diesem Augenblick, auch nicht die Sorge darum, ob er der Ver­pflichtung als Gastgeber gewachsen ist, sondern allein das Vertrauen zu seinem Vater. Er blickt auf gen Himmel und betet. Er spricht ein Tischgebet, ein Dankgebet. Und dann beginnt er das Brot zu brechen und lässt die wenigen Lebens­mittel austeilen, und da geschieht das unfassliche Speisungs­wunder. Es ist eine Vertrauens­sache: Gegen den äußeren Anschein vertraut Jesus seinem himmlischen Vater und befiehlt ihm die Sache im Gebet an, und der himmlische Vater lässt seinen ein­geborenen Sohn nicht im Stich. So kommt es, dass er alle satt machen kann. Liebe Gemeinde, diese Geschichte ist keine Garantie dafür, dass der himmlische Vater uns aus all unseren Verlegen­heiten mit Wundern heraus­hilft. Ein göttliches Wunder ist immer eine große Ausnahme, sonst wäre das Wunder kein Wunder mehr. Aber der himmlische Vater kennt viele Weisen, uns aus unseren Verlegen­heiten heraus­zuhelfen und uns zu befähigen, anderen zu helfen und andere satt zu machen. Oft geschieht es viel langsamer und un­spektaku­lärer als beim Speisungs­wunder, aber es geschieht. Das Ent­scheidende ist, dass auch wir aus unseren Verlegen­heiten eine Vertrauens­sache machen. Dass wir nicht aufgeben, nicht abstumpfen, aber auch nicht leicht­sinnig oder zu selbst­bewusst werden. Es kommt darauf an, dass wir zum Himmel aufsehen, wo unser wahrer Vater wohnt, dass wir mit ihm reden, dass wir ihn bitten, dass wir ihm danken. Wer ein guter Gastgeber sein will oder ein guter Hausvater, der muss also wissen: Ich gehöre zu einem größeren Haushalt, und das ist Gottes Haushalt, das ist Gottes Reich. Da ist der himmlische Vater der Hausvater. Und zu seiner Rechten regiert sein ein­geborener Sohn, mein Herr Jesus Christus. Das ist der, der keinen nach Hause schickt, wenn er Hilfe sucht. Das ist der, der mit fünf Broten und zwei Fischen tausende satt machen kann. Das ist der, der Milliarden von Menschen die Sünden vergibt. Das ist der, der sogar die Macht des Todes gebrochen hat mit seiner Auf­erstehung. Ja, zu diesem großartigen Haushalt gehöre ich und werde ich für immer gehören. Wenn ich mir das bewusst mache, wird mein Vertrauen stark – auch das Vertrauen, dass ich selbst andere bewirten und ihnen helfen kann trotz aller Verlegen­heiten – als einzelner Christ, in meiner Familie und in meiner Gemeinde. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2007.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum