Geben ist seliger als nehmen

Predigt über Apostelgeschichte 20,35 zum 5. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Dieser schöne Satz von Jesus wäre fast vergessen worden. In den vier Evangelien steht er nicht drin. Aber der Apostel Paulus hat diesen mündlich über­lieferten Satz einmal in einer Predigt gesagt, und diese Predigt ist in der Apostel­geschichte auf­geschrieben worden. Wir können uns freuen, dass uns auf diese Weise doch noch der schöne Satz von Jesus erhalten geblieben ist: „Geben ist seliger denn nehmen.“ So jedenfalls hat Martin Luther im Jahre 1545 übersetzt. In der Lutherbibel von 1956 hat man es dem heutigen Deutsch angepasst: „Geben ist seliger als nehmen.“ In der Bibel­übersetzung der „Guten Nachricht“ von 1982 heißt es: „Geben macht mehr Freude als nehmen.“ Und die 2005 erschienene Volxbibel textet vor allem für jugendliche Bibelleser: „Leuten was zu geben macht mehr Spaß als nur zu bekommen.“

Das hört sich so an, als ob Jesus mal wieder die Weltordnung auf den Kopf stellt – so wie bei seinen Worten: „Wer sein Leben verliert, wird's finden“, „Die Letzten werden die Ersten sein“ oder „Wer von euch der Oberste sein will, der sei aller Diener“. Heute gilt ja die Devise: Lang nur ordentlich zu; nimm dir, was du kriegen kannst, und gib so leicht nichts weg; sonst hast du am Ende selber nichts. Jesus dagegen sagte: „Geben macht mehr Freude als nehmen.“ Für Kinder ist das schwer zu verstehen. Der besondere Reiz von Geburts­tagen und von Weihnachten liegt doch für Kinder gerade darin, dass man Geschenke bekommt, dass man also etwas in Empfang nimmt! Kindern macht nehmen mehr Freude als geben und beschenkt werden mehr Freude als schenken. Aber wenn der Mensch dann älter wird und wenn er mit dem Älterwerden auch weiser wird, dann kann sich das umkehren. Großeltern zum Beispiel finden es zwar auch ganz nett, von ihren Enkeln beschenkt zu werden, aber viel mehr Spaß macht es ihnen, ihrerseits die Enkel zu beschenken. Es ist etwas Herrliches, jemandem etwas zu geben und dann zu erleben, wie der sich darüber freut. Großeltern machen die Erfahrung: Geben mach mehr Freude als nehmen; schenken macht mehr Freude als beschenkt werden. Und ganz allgemein kann man sagen: Wenn die Menschen in einer Gemein­schaft vor allem gern geben und nicht dauernd etwas kriegen wollen, dann breitet sich Freude aus, Frieden und Harmonie. Geben macht mehr Freude als nehmen.

Das wollen wir uns jetzt mal mit einem kleinen Spiel vor Augen führen, nämlich mit dem Schulden-Zurückzahl-Spiel. Herr A schuldet Herrn B einen Euro, Herr B schuldet seinerseits Herrn C einen Euro, und Herr C schuldet Herrn A einen Euro. Jetzt gebe ich Herrn A einen Euro – was passiert? Wenn die drei Herren vor allem aufs Nehmen aus sind und weniger aufs Geben, dann wird Herr B Herrn A ansprechen und sagen: „Ich sehe, du hast da einen Euro. Dann zahl mir mal gleich deine Schulden zurück!“ Und Herr C wendet sich gleich darauf an Herrn B und sagt: „He, gib mir den Euro wieder, den ich dir geborgt habe!“ Und Herr A schreit Herrn C an: „Ich möchte endlich meinen Euro wiederhaben!“ Am Ende hat Herr A denselben Euro wie am Anfang, aber alle drei hatten Ärger, und ihre Beziehung untereinander hat gelitten. Wenn die drei Herren dagegen vor allem aufs Geben aus sind, dann sagt Herr A zu Herrn B: „Hier, ich hab jetzt einen Euro, da will ich doch gleich meine Schulden begleichen. Herr B freut sich, bedankt sich und wendet sich an Herrn C: „Es ist mir ein Vergnügen, den geborgten Euro wieder zurück­zuzahlen.“ Und Herr C gibt den Euro weiter an Herrn A mit den Worten: „Wie schön, dass ich dir endlich den Euro zurückgeben kann, den ich mir ausgeliehen habe; vielen Dank auch!“ Wieder hat Herr A am Ende denselben Euro wie am Anfang, aber alle drei hatten Freude, und ihre Beziehung unter­einander ist durch die ganze Aktion gestärkt worden.

Was dieses Schulden-Zurückzahl-Spiel deutlich macht, das gilt in ganz vielen Lebens­bereichen, zum Beispiel auch unter Ge­schwistern oder in der Ehe. Wenn der Ehemann nur erwartet, dass seine Frau ihn liebevoll behandelt, und die Ehefrau nur erwartet, dass ihr Mann sie liebevoll behandelt, dann ist die Ehekrise vor­program­miert. Wenn aber der Mann sich sagt: „Ich will vor allem meine Frau glücklich machen; ob ich selbst glücklich werde, ist gar nicht so wichtig“, und wenn sich die Frau dasselbe sagt, dann finden Liebe, häuslicher Friede und Harmonie einen äußerst fruchtbaren Nährboden. Das menschliche Miteinander ist ein großes Geflecht von geben und nehmen; wenn aber alle lieber geben als nehmen, dann ist die Gemein­schaft gesegnet. „Geben macht mehr Freude als nehmen.“ – „Leuten was zu geben macht mehr Spaß als nur zu bekommen.“

Das heißt, eigentlich geht es dabei um mehr als um Spaß oder Freude. Wenn wir diesem Satz von Jesus wirklich auf den Grund gehen wollen, dann ist es doch besser, dass wir wieder zur guten alten Luther-Übersetzung zurück­kehren: „Geben ist seliger als nehmen.“ „Selig“, das ist mehr als „Freude“ und „Spaß“. Im Wort „selig“ blitzt nämlich golden der Himmel auf, die ewige Seligkeit. Spaß und Freude hat man manchmal im Leben und manchmal auch nicht, aber wer zu Jesus gehört, der hat Seligkeit wie einen wert­beständigen Schatz, der auch in Krisen­zeiten nicht verloren­geht und den selbst der Tod nicht kaputt machen kann.

Die Frage ist nur: Was hat denn das Geben und das Nehmen mit dieser Seligkeit zu tun?

Was Jesus da gesagt hat, das ist eigentlich Gottes eigenes Motto. Gott schenkt nämlich viel lieber, als dass er selbst Opfer bekommt. Das wird an nichts so deutlich wie am Evangelium, und das wird an niemandem so deutlich wie an Jesus Christus selbst. Jesus ist Gottes riesen­großes Geschenk für die ganze Menschheit. Gott hat seinen eigene Sohn gegeben – „wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“, schrieb der Apostel Paulus. Und Jesus selbst hat von sich gesagt: „Der Menschen­sohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“ – „Geben ist seliger als nehmen.“ Durch Jesus vergibt Gott unsere Schuld. Er fordert von uns nicht mehr: „Bezahl mir alle deine Schulden, bezahl mir alle deine Sünden mit deinem Leben!“, sondern er sagt: „Ich erlasse dir deine Schulden; ich schenke dir das ewige Leben.“ Und dieses göttliche Geschenk kommt auch heute wieder bei uns im Gottes­dienst an – im Zuspruch der Sünden­vergebung in der Beichte, im Wort des Evan­geliums, im Leib und Blut Christi beim Heiligen Abendmahl. Gottes­dienst – das heißt vor allem: Gott dient uns, Gott beschenkt uns, Gott macht uns selig durch seinen Sohn Jesus Christus. Ja, es ist eigentlich Gottes Motto, was Jesus da gesagt hat: „Geben ist seliger als nehmen.“ Und damit macht Gott die Beziehung zwischen sich und uns heil, schenkt uns Frieden, schenkt uns Versöhnung. Ja, auch bei Gott gilt in Beziehung auf uns: Das Motto „Geben ist seliger als nehmen“ erfüllt unsere Gemein­schaft mit Liebe, Frieden und Harmonie.

Nehmen wir Gottes Gabe an im Glauben, verachten wir sie nicht! Und lassen wir uns von Gottes Motto anstecken: „Geben ist seliger als nehmen.“ Wenn Gott uns so sehr liebt und beschenkt, dann brauchen wir keine Angst zu haben, dass wir zu kurz kommen oder dass wir zuviel weggeben könnten. Lassen wir uns von Gott dienen im Gottes­dienst! Antworten wir ihm mit unserem Dienst im Singen und Beten und Dankopfer, und dann auch über den Kirchraum hinaus im liebevollen Dienst am Nächsten!

„Geben ist seliger als nehmen“ – das ist kein kirchlicher Trick, um Menschen fürs Geben und Verzichten gefügig zu machen. Manche Leute unter­stellen ja der Kirche, dass sie habgierig sei und sich nur an den Spenden und Kirchen­beiträgen der Gläubigen bereichern will. Die Kollekte im Gottes­dienst scheint ein Beleg dafür zu sein: Eintritt braucht man in der Kirche nicht zu bezahlten, aber Austritt wird verlangt. Nein, so ist das nicht; das weiß jeder, der erfahren hat, wie reich ihn Gott durch Jesus Christus beschenkt. Aber um dafür auch ein deutliches Zeichen zu setzen, soll nicht nur immer was ein­gesammelt werden in der Kirche, es soll auch mal was ausgeteilt werden. Beim Verschenk-Basar haben wir darum bewusst Dinge verschenkt, nicht verkauft. Und in diesem Gottes­dienst soll es darum einmal eine Kollekte verkehrt geben: Jeder darf sich etwas nehmen aus dieser Kollekte! Denn als christliche Gemeinde können wir fröhlich und gern etwas hergeben; wir brauchen keine Angst zu haben, dass uns zu wenig bleibt, haben wir doch einen ganz reichen Vater: den himmlischen Vater, dem die ganze Welt gehört! Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2007.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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