Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Gefastet wird aus ganz verschiedenen Gründen. Einige fasten aus äußerlichen Gründen, zum Beispiel wegen der Gesundheit oder wegen der schlanken Linie. Andere fasten aus selbstsüchtigen Motiven, wie wir letzte Woche gesehen haben: Sie wollen mit ihrer Frömmigkeit und ihrer Selbstdisziplin vor anderen Menschen angeben. Wieder andere fasten aus guten geistlichen Gründen nach dem Vorbild des Herrn Jesus Christus: Es ist für sie eine Hilfe zum Hören auf Gott und zum Gebet. Wieder andere fasten aus Liebe zu ihren Mitmenschen – ebenfalls nach dem Vorbild unseres Herrn Jesus Christus: Sie verzichten zu Gunsten anderer. Und dann gibt es noch einen weiteren, sehr menschlichen Grund zum Fasten: Es ist die Traurigkeit. Wer traurig ist, der kann oft gar nichts essen, er hat keinen Appetit. Wer bekümmert ist, der hat auch keinen Gefallen an den anderen schönen Dingen des Lebens, die er sonst gerne genießt; er verzichtet auf sie, er fastet. Ein Grund für solche Traurigkeit kann die eigene Sünde sein, die ein Mensch in seinem Gewissen spürt; aus diesem Grund ist Fasten auch ein Zeichen für Reue und Buße.
Traurigkeit, Reue und Buße – das war die Grundstimmung der Juden zur Zeit Jesu. Sie waren traurig darüber, dass heidnische Feinde ihr Land besetzt hielten, die Römer nämlich. Und sofern sie fromm waren, bereuten sie die Sünden ihres Volkes, die solches Strafgericht Gottes nach sich gezogen hatten. Es gab mehrere offizielle Bußtage, an denen es allen Juden streng verboten war zu essen. Und die besonders eifrigen Juden, vor allem die Pharisäer, fasteten außerdem noch zweimal wöchentlich, und zwar von Sonntagabend bis Montagabend und von Mittwochabend bis Donnerstagabend. Die Anhänger Johannes des Täufers hielten es ebenso. Trauer über die Sünden Israels, Reue und Buße sollte dieses Fasten zum Ausdruck bringen – auch stellvertretend für die Bevölkerungsteile, die es nicht so ernst nahmen mit ihrem Glauben. Die Pharisäer und viele andere Juden hofften, durch Buße und Fasten Gottes Gnade zu erlangen und ihn dazu zu bewegen, den versprochenen Erlöser aus dem Königsgeschlecht Davids zu senden, den Messias; dann würde sich alles zum Besseren wenden. Aus diesem Grund waren Leute, die oft und lange fasteten, im jüdischen Volk hoch angesehen.
Um so mehr befremdete es die Juden, dass Jesu Jünger nicht fasteten. Lehrte ihr Meister Jesus sie denn nicht dieses Werk der Frömmigkeit? War es ihnen nicht ernst mit dem Reich Gottes? Wollten sie denn nicht durch diese Bußübung Gott gnädig stimmen, dass er endlich den Messias schickt? Darum fragten einige von ihnen Jesus: „Warum fasten die Jünger des Johannes und die Jünger der Pharisäer, und deine Jünger fasten nicht?“ Da gab Jesus ihnen eine merkwürdige Antwort: „Wie können die Hochzeitsgäste fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist? Solange der Bräutigam bei ihnen ist, können sie nicht fasten.“ Jesus erinnerte damit an ein weiteres jüdisches Fastengebot. An Festtagen nämlich, etwa zu Hochzeiten oder beim Neujahrsfest, war das Fasten ausdrücklich verboten; man musste mitessen, mitfeiern und sich mitfreuen. Das leuchtet ein: Weil Fasten ein Ausdruck von Traurigkeit ist, darum ist es bei Hochzeiten ausgesprochen fehl am Platz. Es wäre ja auch schlimm, wenn die Hochzeitsgäste den Festtagsbraten nicht anrühren und die herrlichen Torten verschmähen; das würde die Festfreude erheblich trüben. Jesus will mit dieser Antwort sagen: Jetzt, wo ich als Gottes Erlöser zum Volk Israel und für alle Menschen gekommen bin, da ist Anlass zur Freude wie bei einer Hochzeit: wenn endlich, nach langem Warten, der Bräutigam beim Haus der Braut eintrifft, um sie zu sich zu holen. Da darf keiner fasten, das wäre unangemessen. Und folgerichtig fasten meine Jünger auch nicht, sondern freuen sich darüber, dass ich gekommen bin. Mit dieser Antwort gab sich Jesus als der lang erwartete Messias zu erkennen und zeigte damit, dass es gar nicht mehr nötig ist, mit Fasten und Bußübungen Gott zum Schicken des Erlösers zu bewegen.
Aber Jesus sagte noch mehr. Er kündigte in diesem Bild vom Bräutigam seine Passion an, sein Leiden und Sterben, wenn er seinen Jüngern wieder weggenommen wird. Zu der Zeit werden sie Traurigkeit haben und Anlass zum Fasten. Er sagte: „Es wird die Zeit kommen, dass der Bräutigam von ihnen genommen wird; dann werden sie fasten an jenem Tage.“ Nun können wir freilich nicht ausdrücklich in der Passionsgeschichte nachlesen, dass seine Jünger am Karfreitag und am Tag danach gefastet haben, aber wir müssen das annehmen nach Jesu Worten. Wir müssen annehmen, dass die Jünger vor Traurigkeit nichts mehr gegessen haben, nachdem sie bei Jesu Festnahme entsetzt geflohen waren. Wir müssen annehmen, dass Judas Iskariot vor Traurigkeit nichts mehr gegessen hat, als ihm bewusst wurde, was er mit seinem Verrat angerichtet hatte. Wir müssen annehmen, dass Petrus vor Traurigkeit nichts mehr gegessen hat, als er zutiefst beschämt war über seine feige Verleumdung. Wir müssen annehmen, dass Johannes vor Traurigkeit nichts mehr gegessen hat, als er unterm Kreuz die entsetzliche Todesqual seines geliebten Herrn mitansehen musste – er übrigens als einziger der Jünger. Wir müssen annehmen, dass alle Jünger vor Traurigkeit nichts mehr gegessen haben, als sie die Nachricht erhielten: „Jesus ist tot, am Kreuz gestorben, alles ist aus!“ Sie konnten es kaum fassen, sie waren verzweifelt, und sie hatten auch große Angst, dass man sie als nächste schnappen und töten würde. Hinter verrammelten Türen waren sie zitternd beieinander in Jerusalem und dachten bestimmt an alles mögliche andere, nur nicht ans Essen. Jesu Prophezeiung wird sich erfüllt haben: „Es wird die Zeit kommen, dass der Bräutigam von ihnen genommen wird; dann werden sie fasten, an jenem Tage.“
Dieses Wort Jesu muss nun bei uns heutigen Christen die Frage aufwerfen: Wie steht's denn mit unserem Fasten? Haben wir den Bräutigam bei uns und sollten deshalb lieber essen, feiern und fröhlich sein, oder haben wir ihn nicht mehr und sollten fasten? Spontan werden wir antworten: Ja, natürlich haben wir den Bräutigam bei uns! Er ist bei seinen Jüngern alle Tage bis an der Welt Ende, so hat er es seinen Jüngern nach Ostern versprochen. Er ist gegenwärtig, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind. Wir können zu ihm beten, wir spüren seine Nähe, er ist zweifellos da. Er kommt sogar zu uns mit seinem Leib und Blut im Heiligen Abendmahl und zeigt uns durch dieses Sakrament in einzigartiger Weise: Für euch habe ich mich hingegeben und für euch bin ich jetzt da! Ja, der Bräutigam ist da, und darum haben wir Christen eigentlich keinen Grund zu fasten, sondern Grund zu feiern und uns zu freuen. Folgerichtig gibt es auch keine christlichen Fastengebote; wo Menschen sie dennoch aufrichten wollen, da stehen sie dem Evangelium im Weg. Kein Christ braucht zu fasten, auch nicht in der Fastenzeit, keiner braucht deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben. Wenn der Bräutigam da ist, brauchen die Hochzeitsgäste nicht zu fasten.
Aber man kann die Frage auch aus einem anderen Blickwinkel beantworten. Wir müssen zugeben, dass unser Herr nicht sichtbar bei uns ist wie bei seinem Jüngern damals, sondern unsichtbar. Sogar im Heiligen Abendmahl verhüllt er seine leibliche Gegenwart in die Gestalt der unscheinbaren Elemente Brot und Wein. Manchmal lenkt uns das Leben so ab, manchmal bedrücken uns Leid und Krankheit derart, dass wir seine Gegenwart kaum wahrnehmen. Und dann sehnen wir uns danach, dass er in Herrlichkeit wiederkommt, wie er es versprochen hat. Ja, das gilt auch: dass er wiederkommt am Jüngsten Tag – er, der doch eigentlich gar nicht fort ist! Aber seine Herrlichkeit, die bleibt verborgen bis an jenen Tage. Und darum geht es uns bei aller Osterfreude auch noch immer wieder wie den Jüngern, die über das Leiden und Sterben ihres Herrn so traurig waren, dass sie nichts gegessen haben. Auch uns kann vieles in dieser Welt noch traurig machen, weil der Herr zwar da ist, aber seine Herrlichkeit noch verhüllt ist unter Kreuz und Trübsal. Und vor allem kann uns in dieser Welt noch traurig machen, wie sehr wir selbst den Herrn betrüben durch unsere Sünde, durch immer wieder dieselben Fehler und Bosheiten, bei denen wir uns ertappen. Insofern haben wir auch noch Grund zu fasten.
Was folgt daraus? Es folgt daraus, dass wir als Christen die Freiheit haben zu fasten oder nicht zu fasten. Egal aber wie wir uns verhalten, wir sollten es dem Herrn tun: Wenn wir traurig sind und fasten, dass wir's unter Gebet und Hören auf Gottes Wort tun, auch in aufrichtiger Reue über unsere Sünden und ernsthafter Buße. Wenn wir aber fröhlich sind und essen, dass wir‘s mit Lob und Dank tun für unseren auferstandenen Herrn Jesus Christus, der unter uns ist. Niemand verachte seine Mitchristen, wenn sie es anders halten als er selbst; keiner nötige die anderen zum Fasten oder Nicht-Fasten. Wir haben hier alle Freiheit. Jeder mache es im Aufblick zum Herrn so, wie ers im Herzen empfindet. Amen.
PREDIGTKASTEN |