Urteilsfreie Nächstenliebe

Predigt über Jakobus 2,1‑13 zum 18. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Bei Jakobus geht es um die christliche Ethik – auf deutsch: um das christliche Verhalten. „Seid Täter von Gottes Wort, nicht bloß Hörer!“, ruft uns der Jakobus­brief gleich im ersten Kapitel zu. Auch diejenigen Christen, die viel reden und wenig tun, kriegen in diesem Brief ihr Fett ab. Nicht bloß hören, nicht bloß reden, sondern christlich handeln – dazu ruft uns Gott durch den Apostel Jakobus auf.

Das Wichtigste beim christ­lichen Handeln ist die Nächsten­liebe. Um sie geht es in unserem Predigt­text. Jakobus nennt das Gebot der Nächsten­liebe das „königliche Gesetz“. Und es geht besonders um die Frage: Mit welcher Einstellung begegnen wir Leuten, die wir noch nicht kennen? Lassen wir uns von ihrem Aussehen be­einflussen, von ihrer Kleidung, von ihrem Reichtum?

Nehmen wir mal an, in einem unserer Gottes­dienste tauchen drei unbekannte Männer auf. Der erste ist jung, hat eine Glatze und trägt Leder­kleidung. Wir sind miss­trauisch: ein Skinhead? ein Neonazi? Ein NPD-Wäher? Der zweite Mann ist schon älter, hat einen grauen Pferde­schwanz und trägt Gammel­klamotten. Wieder sind wir miss­trauisch: ein Alt-Achtund­sechziger? ein Linker? ein Wähler der Links­partei? Der dritte Mann ist wie aus dem Ei gepellt: Makelloser Haar­schnitt, Nadel­streifen­anzug, dezente Krawatte. Vielleicht sind wir be­eindruckt: Ein reicher Geschäfts­mann! Ein Erfolgs­mensch! Einer, der es zu etwas gebracht hat! Und wir denken: Hoffentlich wirft er einen an­sehnlichen Schein in die Kollekte.

Nun der Rat des Apostels Jakobus: „Haltet den Glauben an Jesus Christus, unsern Herrn der Herrlich­keit, frei von allem Ansehen der Person.“ Lasst euch nicht vom Aussehen be­eindrucken! Seid in eurer Haltung den drei Männern gegenüber un­parteiisch, heißt sie alle drei mit derselben Herzlich­keit willkommen – innerlich mit eurer Einstellung ihnen gegenüber, und dann auch äußerlich! Seid zu allen dreien nett! Dis­kriminiert keinen wegen seines Aussehens, lasst euch nicht von Vorurteilen leiten. „Haltet den Glauben an Jesus Christus frei von allem Ansehen der Person.“ Vorurteils­frei soll unsere Nächsten­liebe sein.

Das Beispiel im Jakobus­brief zielt darauf ab, dass man den gut gekleideten Reichen nicht höher achten und besser behandeln soll als den schlecht gekleideten Armen. Das war damals das gängige Voruteil: Die Gunst der Reichen bringt handfeste Vorteile, während die Armen nur Ärger machen und einen anbetteln. Scharf hält Jakobus dagegen: „Hat nicht Gott erwählt die Armen in der Welt, die im Glauben reich sind und Erben des Reichs…? Sind es nicht die Reichen, die Gewalt gegen euch üben und euch vor Gericht ziehen?“ In der Tat, Jesus selbst hat ja gesagt: „Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer… Aber dagegen: Weh euch Reichen! Denn ihr habt euren Trost schon gehabt“ (Lukas 6,20.24). Jesus hat einen reichen Mann auf­gefordert, seinen Besitz zugunsten der Armen zu verkaufen und ihm nach­zufolgen. Als dieser das ablehnte, sagte Jesus: „Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Reich Gottes komme“ (Lukas 18,25). Heißt das also, dass man den Spieß umdrehen müsste, dass man die Armen mit liebevoller Herzlich­keit aufnehmen sollte, die Reichen aber mit kühler Zurück­haltung? Viele Christen sehen das heute so. Die Befreiungs­theologie, die sich von Südamerika aus in der ganzen Welt verbreitet hat, verficht den Grundsatz, dass Christen sehr wohl parteiisch sein müssen – aber eben zugunsten der Amen! So ist in unserem erdachten Beispiel der Mann mit den Nadel­streifen für manchen Christen der un­sym­pathischste. Wer weiß, vielleicht ist er ein kalt­blütiger Manager, der gerade hunderte von Arbeits­plätzen weg­rationali­siert hat und dabei selbst Millionen scheffelt?

Aber halt – wie hieß es doch gleich? „Haltet den Glauben an Jesus Christus frei von allem Ansehen der Person.“ Deshalb kann das, was folgt, nicht bedeuten: „Zieht den Armen dem Reichen vor!“ Es bedeutet lediglich: Achtet mal darauf, welche hohe Wert­schätzung die Armen bei Gott erfahren – dann könnt ihr sie gar nicht mehr gering schätzen und den Reichen vorziehen. Grund­sätzlich aber gilt: Seid in eurer christ­lichen Nächsten­liebe vorurteils­frei – und zwar nach allen Richtungen hin! Behandelt alle mit derselben Freundlich­keit und Ehr­erbietung!

Vorurteils­frei handeln – das leuchtet auch vielen Nicht­christen ein, das ist dem Menschen gewisser­maßen ins Gewissen ge­schrieben. Vorurteils­frei heißt, ohne vor­schnelles Urteil sein, denn der äußere Schein und die vorgefasste Meinung können trügen: Vielleicht ist der Mann mit der Glatze ja gar kein Neonazi, sondern er hat Krebs und ihm sind deswegen die Haare aus­gefallen. Vielleicht ist der Mann mit dem Pferde­schwanz ein ganz ernsthafter Christ, auch wenn er die Linkspartei wählt; so etwas soll es geben. Und vielleicht ist der Mann mit den Nadel­streifen weder ein lieber Reicher noch ein kalt­blütiger Kapitalist, sondern ein Mafia-Boss oder ein Spion. Darum sollten wir die Voruteile besser beiseite lassen, klar. Aber wenn wir's genau bedenken, dann geht die Nächsten­liebe noch weiter. Sie hört nämlich auch dann noch nicht auf, wenn sich unsere Voruteile bestätigen. Den Mann mit der Glatze sollen wir auch dann noch freundlich behandeln, wenn er wirklich ein Neonazi ist und die Meinung vertritt, man sollte am besten alle Ausländer aus Deutschland hinaus­werfen. Den Mann mit dem Pferde­schwanz sollen wir auch dann noch freundlich behandeln, wenn er wirklich ein ein­gefleischter Kommunist ist und die Meinung vertritt, man sollte allen Reichen ihren Reichtum wegnehmen und ihn den Armen geben. Den Mann mit den Nadel­streifen sollen wir auch dann noch freundlich behandeln, wenn er wirklich kaltblütig Arbeits­plätze weg­rationali­siert und dann noch die Meinung vertritt, Arbeitslose seien nur zu faul zum Arbeiten. Kurz: Auch wenn ein Mensch nicht nur wie ein Sünder aussieht, sondern wirklich ein Sünder ist, sollen wir ihm in christ­licher Nächsten­liebe begegnen. Denn auch Gott hat jeden Sünder lieb und will nicht sein Verderben, sondern seine Rettung; schließlich hat er ja nur deshalb seinen Sohn in die Welt geschickt. Daher ist wahre Nächsten­liebe nicht nur vor­urteils­frei, sondern überhaupt urteilsfrei – keiner wird verurteilt, keiner wird gerichtet, egal wie er zu sein scheint und wie er wirklich ist. „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet“, mahnte Jesus (Matth. 7,1). Das heißt natürlich nicht, dass man offen­sichtliche Sünden einfach übersehen sollte; wir sollten offen­sichtliche Sünder durchaus liebevoll ermahnen. Aber wenn wir den Sünder verachten und ent­sprechend behandeln, dann trifft uns das Urteil des Jakobus: „Wenn ihr die Person anseht, tut ihr Sünde und werdet überführt vom Gesetz als Über­treter.“

Jakobus schreibt dies besonders für Christen, die sich selbst für ziemlich fromm halten. Die sich zum Beispiel etwas darauf einbilden, dass sie ihrem Ehepartner treu bleiben, niemanden umbringen und auch sonst die Gebote halten. Auch sonst? Jakobus überführt sie: Wenn es an der Nächsten­liebe hapert, dem „könig­lichen Gebot“, wenn die Nächsten­liebe durch Vorurteile und Ver­urteilung ein­geschränkt ist, dann nützt die ganze übrige Frömmigkeit nichts. „Denn wenn jemand das ganze Gesetz hält und sündigt gegen ein einziges Gebot, der ist am ganzen Gesetz schuldig“, schreibt Jakobus. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Wenn jemand untadelig und un­parteiisch in seiner Nächsten­liebe ist, aber die Ehe bricht oder lügt oder den Feiertag nicht heiligt, dann kann er sich nicht für einen guten Christen halten; er ist ebenso ein Gesetzes­übertreter wie der, der Probleme mit der Nächsten­liebe hat. Wie gesagt: Es geht bei Jakobus um die Ethik, um das christliche Gesamt­verhalten. Er pocht darauf, dass wir uns ganz und gar untadelig halten sollen; er schreibt: „Redet und handelt so wie Leute, die durchs Gesetz der Freiheit gerichtet werden sollen.“

Das gilt auch und besonders für alle Pastoren, also auch besonders für mich. Darum hieß es früher in der Gottes­dienst­ordnung für die Einführung eines Pastors in eine neue Gemeinde: „Willst du dein Amt so führen, wie du es dich einst vor Gottes Richter­stuhl zu ver­antworten getraust?“ Ich erinnere mich an lebhafte Debatten auf Pfarr­konventen, wo diese Formu­lierung kritisiert wurde: Wir alle können doch im Gericht nur auf Gottes Gnade hoffen und nicht mit unseren Werken bestehen – was soll also dieses Versprechen mit dem Bezug zum Jüngsten Gericht? Nun, ich denke, dass da genau das aufgenommen worden war, was Jakobus sagte: Wir sollen uns gegenüber jedermann und in jeder Beziehung so verhalten wie Leute, die im Jüngsten Gericht nach dem strengen Maßstab von Gottes Gesetz beurteilt werden. Wie solche Leute, also: als ob es so wäre – damit wir uns mit allem Ernst um das rechte christliche Verhalten bemühen. Dass wir mit diesen Bemühungen immer wieder kläglich scheitern und dass wir dann nicht anders können als Zuflucht suchen bei Gottes Gnade, das steht auf einem anderen Blatt. Aber auch das verschweigt der Apostel nicht. Denn im letzten Teilsatz unseres Abschnitts hat Gottes Gnade das letzte Wort und tröstet uns: „Barm­herzigkeit triumphiert über das Gericht.“ So sehr wir uns um perfektes christ­liches Verhalten bemühen sollen, so sehr sollen wir unsere ganze Hoffnung allein auf Gottes Barmherzig­keit setzen, denn durch sie können wir in jedem Fall getrost und fröhlich sein – auch wenn wir merken, dass unsere Ethik noch sehr zu wünschen übrig lässt. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2006.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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