Lieben heißt Lasten tragen

Predigt über Galater 6,1‑2 zum 15. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Wenn alle Christen orange­farbene Hüte trügen, würde man sie stets auf den ersten Blick erkennen. Weil das aber nicht so ist und sie auch sonst kein eindeutiges äußeres Erkennungs­zeichen haben, sieht man ihnen ihren Glauben nicht auf den ersten Blick an. Auf den zweiten Blick aber kann man die Christen sehr wohl erkennen – sollte man sie jedenfalls erkennen können. Christen haben nämlich doch ein Erkennungs­zeichen, wenn auch ein wenig un­scheinbar. Jesus sagte: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe unter­einander habt“ (Joh. 13,35). Die Liebe ist das Erkennungs­zeichen von uns Christen. Sie ist uns von unserem Herrn und Heiland als höchstes Gebot auf­getragen. Jesus sagte unmittelbar vorher: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch unter­einander liebt, wie ich euch geliebt habe“ (Joh. 13,34). Neu ist dieses Gebot insofern, dass Gottes Liebe nie zuvor so klar ans Licht getreten ist wie mit dem Kommen Jesu. Wir Christen haben durch Jesus Gottes un­ermesslich große Liebe erfahren. Wenn wir nun unserer­seits selbstlos und aufopfernd wie Jesus lieben, dann ist solche Liebe unser Erkennungs­zeichen.

Lieber Bruder, lieber Schwester, erfüllst du Christi Liebes­gebot? Kann man dich als Jesus-Jünger an deiner Liebe erkennen? Wie zeigt sich solche Liebe überhaupt? Das kann natürlich sehr verschieden aussehen, je nachdem, was für ein Mensch du bist und in welcher Situation du dich befindest. Aber jedenfalls ist diese Liebe nie rein ober­flächlich. Sie muss sich auch nicht unbedingt darin erweisen, dass Christen einander dauernd um den Hals fallen und sagen, wie toll sie sich finden. Nein, die wahre Jesus-Liebe, die unser Herr uns vorgelebt hat, zeigt sich eigentlich anders: Sie zeigt sich darin, dass ein Christ dem anderen seine Lasten tragen hilft. Genau das meint das berühmte Bibelwort aus dem Galater­brief: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ – das Gesetz Christi nämlich, das fordert, dass wir uns unter­einander so lieben sollen, wie er uns geliebt hat.

Aber wie können wir die Lasten anderer tragen? Zunächst einmal müssen wir die Lasten der anderen kennen. Wir müssen uns für unsere Mitchristen inter­essieren, wir müssen mit ihnen reden, und wir müssen unserer­seits auch bereit sein, dass wir ihnen von unseren eigenen Lasten erzählen. Das informelle Zusammen­sein und Reden nach dem Gottes­dienst bietet dafür eine Gelegen­heit, aber es gibt auch viele andere Gelegen­heiten. Wenn uns unsere Mitchristen freilich gleich­gültig oder gar lästig sind, dann haben wir nicht die Liebe Christi.

Und was machen wir dann, wenn wir von den Lasten der anderen hören? Und was machen wir, wenn diese Lasten so groß und schwer sind, dass wir uns ganz hilflos fühlen? Was machen wir, wenn jemand zum Beispiel von einer schmerz­haften Krankheit erzählt oder von drückenden Geldsorgen oder von ständigem Streit mit einem Nachbarn? Wie können wir da tragen helfen? Lieber Bruder, liebe Schwester, schon wenn du Anteil nimmst und zuhörst, trägst du diese Last mit. Denn für viele ist es bereits eine große Hilfe, wenn sie einfach mal mit jemandem über ihre Probleme reden können. Und dann hast du vielleicht die Gabe des Tröstens. Gott schenkt dir Gedanken und Worte, die die Last zwar nicht ver­schwinden lassen, die aber dem Mitchristen Kraft und neuen Mut schenken, sie zu tragen. Vielleicht kannst du sogar den einen oder anderen Rat geben, vielleicht kannst du ein bisschen praktisch weiter­helfen, vielleicht kannst du eine Adresse nennen, wo dem anderen geholfen wird. Aber auch wenn du dazu nicht in der Lage bist, eines kannst du ganz bestimmt tun, um dem anderen seine Last tragen zu helfen: Du kannst für ihn beten. Vielleicht auch, wenn es die Situation ermöglicht, mit ihm zusammen beten. Denn Jesus will ja nicht, dass wir uns mit unseren Lasten allein abmühen. Die größte Last, unsere Sünden­schuld, hat er bereits für uns getragen, und er möchte, dass wir auch andere Lasten im Gebet auf ihn werfen. Bei ihm sind sie gut aufgehoben; wir wissen: Er wird alles wohl machen. Wenn du dir das mal klar machst, dann merkst du: Du hast mancherlei Möglich­keiten, beim Tragen der Lasten anderer zu helfen.

„Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“, so lautet Gottes Auftrag. Wenn wir uns den Vers unmittelbar vor diesem bekannten Bibelwort ansehen, dann rückt noch eine ganz besondere Art von Lasten ins Blickfeld. Im Vers vorher heißt es: „Wenn ein Mensch von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht.“ Es geht um die Lasten der Ver­fehlungen, Sünden oder Missetaten. Die christliche Gemeinde ist nicht der Ort, wo anderen Menschen ein Vorwurf aus ihrer Sünde gemacht wird. Sie ist auch nicht der Ort, wo sich selbst­gerechte Heilige über die Sünden anderer erhaben fühlen. Sie ist vielmehr der Ort, wo Sündern geholfen wird, mit ihrer Sünde fertig­zuwerden. Und das durch Christen­menschen, die sich sehr wohl bewusst sind, dass auch sie ihre Schwächen und Fehler haben, und die darum sehr verständnis­voll, liebevoll und sanftmütig mit der Sündenlast anderer umgehen. „Wenn ein Mensch von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanft­mütigem Geist.“

Nehmen wir mal an, da ist jemand von der Sünde gegen das 3. Gebote ereilt worden: Ein Mitchrist heiligt nicht mehr den Feiertag, er versäumt ohne triftigen Grund die Sonntags­gottes­dienste seiner Gemeinde, er heiligt den Feiertag nicht mehr. Wie gehen wir mit dieser Last um? Wie helfen wir sie tragen? Zunächst einmal: Wir machen ihm keinen Vorwurf daraus. Auch wenn wir selbst fast jeden Sonntag in der Kirche sind, dürfen wir uns deswegen nicht besser oder überlegen fühlen, das wäre hochmütig. Wenn wir so erzogen wurden oder wenn wir uns das angewöhnt haben, dann können wir froh und dankbar darüber sein, aber keineswegs stolz darauf. Und wir übersehen auch nicht, dass wir auf anderen Gebieten unsere eigenen Schwächen haben, die vor Gottes Angesicht keineswegs harmloser sind. So könnte ein fleißiger Kirchgänger zum Beispiel das Problem haben, anderen gegenüber nicht immer freundlich und hilfsbereit zu sein. Jesus hat davor gewarnt, den Splitter im Auge des Mitchristen heraus­ziehen zu wollen und dabei den Balken im eigenen Auge zu übersehen. Das wäre der Fall, wenn der Kirchgänger sich nur um den Splitter des Zuhause­bleibens bei seinem trägen Mitchristen ärgert, aber den Balken der Unfreundlich­keit bei sich selbst übersieht.

„Einer trage des anderen Last“, das gilt auch und besonders für die Last der Sünden. Der Un­freundliche wird den Sonntags­entheiliger ertragen. Er wird ihn nicht hochmütig verachten, er wird nicht ungeduldig mit ihm werden, er wird nicht hässlich über ihn reden, er wird aber auch nicht so tun, als sei egal, ob ein Christ sonntags zur Kirche geht oder nicht. Vielmehr wird er immer wieder versuchen, den Mitchristen liebevoll unter Gottes Wort einzuladen und den großen Segen vor Augen zu führen, der auf solchem Gehorsam ruht. Der Sonntags­entheiliger seinerseits wird hoffentlich auch den Un­freundlichen ertragen. Er wird ihn nicht verachten, er wird nicht ungeduldig mit ihm werden, er wird nicht hässlich über ihn reden, er wird aber auch nicht so tun, als sei es egal, ob ein Mensch freundlich oder un­freundlich mit anderen umgeht. Vielmehr wird er immer wieder versuchen, dem Mitchristen liebevoll zu mehr Freundlich­keit zu ermuntern und daran zu erinnern, wie groß Gottes Freundlich­keit gegen uns ist. Beides, der Balken und der Splitter, soll nicht im Auge bleiben, beides muss raus, das ist der Wille unseres Herren. Und das kann geschehen, wenn wir gegenseitig die Last auch unserer Sünden tragen helfen – in Sanftmut, Geduld und Liebe. „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Daran wird dann jedermann erkennen, dass wir Jesu Jünger sind, nämlich wenn wir Liebe unter­einander haben – solch helfende und aufopfernde Liebe, wie Jesus sie uns erwiesen hat. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2006.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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