Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Wenn alle Christen orangefarbene Hüte trügen, würde man sie stets auf den ersten Blick erkennen. Weil das aber nicht so ist und sie auch sonst kein eindeutiges äußeres Erkennungszeichen haben, sieht man ihnen ihren Glauben nicht auf den ersten Blick an. Auf den zweiten Blick aber kann man die Christen sehr wohl erkennen – sollte man sie jedenfalls erkennen können. Christen haben nämlich doch ein Erkennungszeichen, wenn auch ein wenig unscheinbar. Jesus sagte: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Joh. 13,35). Die Liebe ist das Erkennungszeichen von uns Christen. Sie ist uns von unserem Herrn und Heiland als höchstes Gebot aufgetragen. Jesus sagte unmittelbar vorher: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe“ (Joh. 13,34). Neu ist dieses Gebot insofern, dass Gottes Liebe nie zuvor so klar ans Licht getreten ist wie mit dem Kommen Jesu. Wir Christen haben durch Jesus Gottes unermesslich große Liebe erfahren. Wenn wir nun unsererseits selbstlos und aufopfernd wie Jesus lieben, dann ist solche Liebe unser Erkennungszeichen.
Lieber Bruder, lieber Schwester, erfüllst du Christi Liebesgebot? Kann man dich als Jesus-Jünger an deiner Liebe erkennen? Wie zeigt sich solche Liebe überhaupt? Das kann natürlich sehr verschieden aussehen, je nachdem, was für ein Mensch du bist und in welcher Situation du dich befindest. Aber jedenfalls ist diese Liebe nie rein oberflächlich. Sie muss sich auch nicht unbedingt darin erweisen, dass Christen einander dauernd um den Hals fallen und sagen, wie toll sie sich finden. Nein, die wahre Jesus-Liebe, die unser Herr uns vorgelebt hat, zeigt sich eigentlich anders: Sie zeigt sich darin, dass ein Christ dem anderen seine Lasten tragen hilft. Genau das meint das berühmte Bibelwort aus dem Galaterbrief: „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ – das Gesetz Christi nämlich, das fordert, dass wir uns untereinander so lieben sollen, wie er uns geliebt hat.
Aber wie können wir die Lasten anderer tragen? Zunächst einmal müssen wir die Lasten der anderen kennen. Wir müssen uns für unsere Mitchristen interessieren, wir müssen mit ihnen reden, und wir müssen unsererseits auch bereit sein, dass wir ihnen von unseren eigenen Lasten erzählen. Das informelle Zusammensein und Reden nach dem Gottesdienst bietet dafür eine Gelegenheit, aber es gibt auch viele andere Gelegenheiten. Wenn uns unsere Mitchristen freilich gleichgültig oder gar lästig sind, dann haben wir nicht die Liebe Christi.
Und was machen wir dann, wenn wir von den Lasten der anderen hören? Und was machen wir, wenn diese Lasten so groß und schwer sind, dass wir uns ganz hilflos fühlen? Was machen wir, wenn jemand zum Beispiel von einer schmerzhaften Krankheit erzählt oder von drückenden Geldsorgen oder von ständigem Streit mit einem Nachbarn? Wie können wir da tragen helfen? Lieber Bruder, liebe Schwester, schon wenn du Anteil nimmst und zuhörst, trägst du diese Last mit. Denn für viele ist es bereits eine große Hilfe, wenn sie einfach mal mit jemandem über ihre Probleme reden können. Und dann hast du vielleicht die Gabe des Tröstens. Gott schenkt dir Gedanken und Worte, die die Last zwar nicht verschwinden lassen, die aber dem Mitchristen Kraft und neuen Mut schenken, sie zu tragen. Vielleicht kannst du sogar den einen oder anderen Rat geben, vielleicht kannst du ein bisschen praktisch weiterhelfen, vielleicht kannst du eine Adresse nennen, wo dem anderen geholfen wird. Aber auch wenn du dazu nicht in der Lage bist, eines kannst du ganz bestimmt tun, um dem anderen seine Last tragen zu helfen: Du kannst für ihn beten. Vielleicht auch, wenn es die Situation ermöglicht, mit ihm zusammen beten. Denn Jesus will ja nicht, dass wir uns mit unseren Lasten allein abmühen. Die größte Last, unsere Sündenschuld, hat er bereits für uns getragen, und er möchte, dass wir auch andere Lasten im Gebet auf ihn werfen. Bei ihm sind sie gut aufgehoben; wir wissen: Er wird alles wohl machen. Wenn du dir das mal klar machst, dann merkst du: Du hast mancherlei Möglichkeiten, beim Tragen der Lasten anderer zu helfen.
„Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“, so lautet Gottes Auftrag. Wenn wir uns den Vers unmittelbar vor diesem bekannten Bibelwort ansehen, dann rückt noch eine ganz besondere Art von Lasten ins Blickfeld. Im Vers vorher heißt es: „Wenn ein Mensch von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht.“ Es geht um die Lasten der Verfehlungen, Sünden oder Missetaten. Die christliche Gemeinde ist nicht der Ort, wo anderen Menschen ein Vorwurf aus ihrer Sünde gemacht wird. Sie ist auch nicht der Ort, wo sich selbstgerechte Heilige über die Sünden anderer erhaben fühlen. Sie ist vielmehr der Ort, wo Sündern geholfen wird, mit ihrer Sünde fertigzuwerden. Und das durch Christenmenschen, die sich sehr wohl bewusst sind, dass auch sie ihre Schwächen und Fehler haben, und die darum sehr verständnisvoll, liebevoll und sanftmütig mit der Sündenlast anderer umgehen. „Wenn ein Mensch von einer Verfehlung ereilt wird, so helft ihm wieder zurecht mit sanftmütigem Geist.“
Nehmen wir mal an, da ist jemand von der Sünde gegen das 3. Gebote ereilt worden: Ein Mitchrist heiligt nicht mehr den Feiertag, er versäumt ohne triftigen Grund die Sonntagsgottesdienste seiner Gemeinde, er heiligt den Feiertag nicht mehr. Wie gehen wir mit dieser Last um? Wie helfen wir sie tragen? Zunächst einmal: Wir machen ihm keinen Vorwurf daraus. Auch wenn wir selbst fast jeden Sonntag in der Kirche sind, dürfen wir uns deswegen nicht besser oder überlegen fühlen, das wäre hochmütig. Wenn wir so erzogen wurden oder wenn wir uns das angewöhnt haben, dann können wir froh und dankbar darüber sein, aber keineswegs stolz darauf. Und wir übersehen auch nicht, dass wir auf anderen Gebieten unsere eigenen Schwächen haben, die vor Gottes Angesicht keineswegs harmloser sind. So könnte ein fleißiger Kirchgänger zum Beispiel das Problem haben, anderen gegenüber nicht immer freundlich und hilfsbereit zu sein. Jesus hat davor gewarnt, den Splitter im Auge des Mitchristen herausziehen zu wollen und dabei den Balken im eigenen Auge zu übersehen. Das wäre der Fall, wenn der Kirchgänger sich nur um den Splitter des Zuhausebleibens bei seinem trägen Mitchristen ärgert, aber den Balken der Unfreundlichkeit bei sich selbst übersieht.
„Einer trage des anderen Last“, das gilt auch und besonders für die Last der Sünden. Der Unfreundliche wird den Sonntagsentheiliger ertragen. Er wird ihn nicht hochmütig verachten, er wird nicht ungeduldig mit ihm werden, er wird nicht hässlich über ihn reden, er wird aber auch nicht so tun, als sei egal, ob ein Christ sonntags zur Kirche geht oder nicht. Vielmehr wird er immer wieder versuchen, den Mitchristen liebevoll unter Gottes Wort einzuladen und den großen Segen vor Augen zu führen, der auf solchem Gehorsam ruht. Der Sonntagsentheiliger seinerseits wird hoffentlich auch den Unfreundlichen ertragen. Er wird ihn nicht verachten, er wird nicht ungeduldig mit ihm werden, er wird nicht hässlich über ihn reden, er wird aber auch nicht so tun, als sei es egal, ob ein Mensch freundlich oder unfreundlich mit anderen umgeht. Vielmehr wird er immer wieder versuchen, dem Mitchristen liebevoll zu mehr Freundlichkeit zu ermuntern und daran zu erinnern, wie groß Gottes Freundlichkeit gegen uns ist. Beides, der Balken und der Splitter, soll nicht im Auge bleiben, beides muss raus, das ist der Wille unseres Herren. Und das kann geschehen, wenn wir gegenseitig die Last auch unserer Sünden tragen helfen – in Sanftmut, Geduld und Liebe. „Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.“ Daran wird dann jedermann erkennen, dass wir Jesu Jünger sind, nämlich wenn wir Liebe untereinander haben – solch helfende und aufopfernde Liebe, wie Jesus sie uns erwiesen hat. Amen.
PREDIGTKASTEN |