Erwartungen

Predigt über Jesaja 5,1‑7 zum Sonntag Reminiszere

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Alle Menschen haben Er­wartungen. Wenn wir für irgendetwas Geld ausgeben, erwarten wir eine ent­sprechende Gegen­leistung. Wenn wir uns mit etwas viel Mühe machen, dann hoffen wir auf Erfolg. Und wenn uns ein Mensch nicht gleich­gültig ist, dann haben wir auch an ihn bestimmte Er­wartungen. Ebenso haben wir Erwartungen an die Kirche und an den lieben Gott. Und welche Erfahrungen machen wir mit unseren Er­wartungen? Wir machen sehr ver­schiedene Er­fahrungen: Manche Erwartungen werden erfüllt, und wir sind zufrieden. Manche Erwartungen werden sogar über­troffen, und wir sind hoch erfreut. Manche Erwartungen werden enttäuscht, dann sind wir traurig oder wütend.

Von ent­täuschten Erwartungen handelt unser Gotteswort. Unser Gotteswort ist ein Lied des Propheten Jesaja. Er hat es vor zwei­einhalb­tausend Jahren gedichtet und den Menschen von Jerusalem vor­gesungen. Zu allen Zeiten haben die Menschen gern Neuigkeiten gehört, Nach­richten, Ge­schichten. In einer Zeit, als es noch keine Massen­medien gab, haben Ge­schichten­erzähler diese Neugier befriedigt, oder auch Sänger, die Nachrichten und Geschichten in Liedform gekleidet haben. Mit den sogenannten Bänkel­sängern hat es diese Form des Erzählens noch vor hundert Jahren gegeben. Jesaja hatte eine Botschaft von Gott, und um sie unter das Volk zu bringen, trat er auf wie ein Geschichten­erzähler, wie ein Balladen­sänger. Nachdem sich eine Schar von Neugierigen am Stadttor von Jerusalem um ihn gesammelt hatte, hub er an: „Wohlan, ich will meinem lieben Freunde singen, ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg.“

Und dann berichtete Jesaja in kunstvollen Strophen davon, wieviel Mühe sich sein Freund mit der Anlage eines neuen Weinbergs gemacht hatte. Er hatte sich einen idealen Platz ausgesucht: Hanglage mit guter Boden­qualität. Er grub ihn um und schaffte alle Steine fort, die ihm dabei in die Quere kamen. Dann pflanzte er jungen Reben ein – die beste Sorte, die er kriegen konnte. Und er traf eine Reihe von Vor­kehrungen im Hinblick auf den erwarteten Ertrag: Er baute einen Turm, von dem aus die reifenden Trauben bewacht werden sollten, dass kein Dieb und kein wildes Tier sie vorzeitig ernteten. Und er meißelte aus einem Felsenstück einen großen Trog mit Ablauf­rinne, eine Kelter. Dort sollten dann später die frisch geernteten Trauben sogleich mit den Füßen zerstampft werden, und der Most, der über die Rinne ablief, sollte in Behälter laufen, wo er dann gären und zu Wein heranreifen konnte. An alles hatte er gedacht; die größte Mühe hatte er sich gegeben. Und nun wartete er darauf, dass sein Weinberg gute Trauben brächte. Wer ein bisschen was von der Winzerei versteht, der weiß, dass er lange warten musste, mehrere Jahre, denn so lange dauert es, bis neu an­gepflanzte Weinstöcke verwertbare Frucht bringen.

Aber dann kam die große Ent­täuschung: Seine Erwartung einer guten Ernte erfüllte sich nicht. Jesaja sang: „Er wartete darauf, dass der Weinberg gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte.“ Jesaja sang von der Wut seines Freundes, von seinem Zorn über den Weinberg. Diese Strophe über den Zorn der Ent­täuschung gipfelt in der Aussage des Freundes: „Ich will den Wolken gebieten, dass sie nicht darauf regnen.“ Spätestens an dieser Stelle merkten die Zuhörer, wen der Prophet meinte mit seinem Freund. Sie wussten genau, es gibt nur einen, der über Wolken und Regen gebieten kann, und das ist Gott der Herr. Ja, genau so ist es, bestätigte Jesaja in der letzten Strophe. Mit dieser Strophe verließ er das Gleichnis und verwandelte die unter­haltsame Geschichte in eine scharfe Anklage an seine Zuhörer: „Des HERRN Zebaoth Weinberg ist das Haus Israel, und die Männer Judas sind seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechts­spruch, siehe, da war Rechts­bruch; auf Gerechtig­keit, siehe das war Geschrei über Schlechtig­keit.“

Gottes Erwartungen an sein altes Bundesvolk Israel sind bitter enttäuscht worden. Was hatte er nicht alles in dieses Volk hinein­gesteckt an Liebe, Geduld und großen Taten! Er hatte die Väter Abraham, Isaak und Jakob gesegnet und behütet. Er hatte durch Josef dafür gesorgt, dass Jakobs Familie in der Zeit der Hungersnot in Ägypten überleben konnte. Er hatte die Israeliten aus der Zwangs­arbeit in Ägypten befreit. Er hatte mit ihnen am Berg Sinai seinen heiligen Bund geschlossen und ihnen durch Mose das Gesetz gegeben. Er hatte sie vierzig Jahre lang in der Wüste geführt, hatte sie dabei täglich gespeist und versorgt. Er hatte ihnen das Land Kanaan zum Besitz gegeben. Er hat ihnen Richter und Könige als großartige Führungs­personen geschenkt. Er hatte sie un­glaubliche Wunder erleben lassen. Aber die erwartete Frucht war aus­geblieben: Ein Leben in Gottes­furcht und Gesetzes­treue, ein Leben in Wahrhaftig­keit und Nächsten­liebe führten die aller­meisten Israeliten nicht. „Er wartete darauf, dass der Weinberg gute Trauben brächte, aber er brachte schlechte.“

Auch Jahr­hunderte nach Jesaja, zur Zeit Jesu, hatte sich die Situation nicht wesentlich gebessert; ja, in gewisser Weise war sie noch schlimmer geworden. Darum hat auch Jesus selbst eine Weinbergs­geschichte erzählt und damit an Jesaja angeknüpft; wir haben sie heute als Sonntags­evangelium gehört. Aber da werden aus den Reben, die gute Frucht verweigern, plötzlich böse Wein­gärtner, die gegen den Herrn des Weinbergs einen Aufstand machen, die seinen Gewinn unter­schlagen, die seine Boten misshandeln und die schließlich auch nicht davor zurück­schrecken, seinen Sohn zu ermordern.

Es wäre freilich fatal, wenn wir uns nun zurück­lehnten und uns das Ganze wie eine schön-schaurige Geschichte über das Volk Israel anhörten. Wir irrten dann ebenso wie die Bürger Jerusalems zu Beginn des Jesaja-Liedes, als sie noch nicht gemerkt hatten, dass das Lied sie selbst anklagte. Nein, liebe Gemeinde, wenn uns dieses alte Lied des Jesaja heute begegnet, dann will es uns auch heute anklagen, ebenso wie die Menschen damals. Denn Gottes Weg mit dem Volk Israel zeigt doch nur in besonderer Weise, was sein Weg mit allen Menschen ist. Wir alle sind ja seine Geschöpfe, in uns alle hat Gott viel Liebe, Geduld und große Taten investiert. Und darum müsste es jedem klar sein, dass Gott Großes von einem jeden von uns erwarten kann. Besonders in einem Land, in dem wir keine materielle Not leiden müssen. Besonders in einem Land, in dem Frieden herrscht. Besonders in einem Land, wo man sich ohne Nachteile zu Gott bekennen und sein Evangelium bezeugen kann. Besonders wenn man einen gesunden Leib und eine gesunde Seele hat. Was hat Gott dir alles geschenkt – und was hast du daraus gemacht?

Lasst uns die Geschichte nun also auf uns beziehen und lasst uns drei Dinge daran lernen.

Erstens: Es kommt nicht auf unsere Erwartungen an Gott und die Kirche an, sondern es kommt auf Gottes Erwartungen an uns an. Er als unser Schöpfer hat das Recht, von uns Gutes zu erwarten, gute Frucht, guten Ertrag unseres Lebens.

Zweitens: Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir Gottes Erwartungen nicht erfüllt haben. Wir haben die guten Voraus­setzungen, die Gott uns gegeben hat, schlecht genutzt. Statt ihm zu dienen, seiner Kirche zu dienen und auch den Mitmenschen zu dienen, die unsere Hilfe nötig haben, haben wir am aller­meisten und zuerst uns selbst gedient. Das Lied des Jesaja zeigt uns, was wir dafür zu erwarten haben: Gottes Zorn, Gottes Strafe. Ja, liebe Gemeinde, wenn wir die Bibel wirklich ernst nehmen, dann müssen wir erkennen – ob es uns passt oder nicht – : Was wir von Gott erwarten können, ist Strafe und Verdammnis; nichts anderes haben wir verdient.

Drittens: Gottes Strafurteil ist nicht sein letztes Wort über sein Volk Israel und über die ganze Menschheit. Sein letztes Wort hat Gott mit Jesus Christus gesprochen. Wir wissen: Der Gottessohn, der das Weinberg-Gleichnis in der verschärften Form erzählt hat, der hat zugleich auch einen Ausweg eröffnet. Einen Ausweg, der ihn selbst teuer zu stehen kam: Er ist für die Sünden der Welt ans Kreuz gegangen. Und er hat damit allen, die sich bekehren und an ihn glauben, den Weg zur Versöhnung mit dem himmlischen Vater eröffnet. Wer zu Jesus gehört, der hat eine Verheißung, die alle mensch­lichen Erwartungen an Gott weit übertrifft: Wer an Jesus glaubt, der hat das ewige Leben. Wenn uns der Herr so über alle Maßen beschenkt und beglückt, über jede Erwartung – sollten wir da nun nicht auch alles daran setzen, für ihn gute Frucht zu bringen? Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2006.

Autor: Pastor Matthias Krieser

SOLI DEO GLORIA!

PREDIGTKASTEN

►  Startseite

►  Impressum