Warum der Glaube allmächtig macht

Predigt über Markus 9,23 zum 17. Sonntag nach Trinitatis

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Ich kannte eine Frau, die war querschnitt­gelähmt. Sie saß im Rollstuhl, konnte auch ihre Hände kaum bewegen und war rund um die Uhr auf Pflege angewiesen. Einmal hatte sie eine Pflegerin, die sich für sehr christlich hielt. Diese sagte ihr wiederholt: „Wenn du beten würdest und wenn du dabei richtig fest glauben würdest, dann würdest du geheilt werden. Du sitzt nur deshalb im Rollstuhl, weil dein Glaube nicht groß genug ist.“

Diese Pflegerin konnte ihre Meinung durchaus mit Worten Jesu und mit anderen Bibelversen unter­mauern, nicht zuletzt mit unserem Predigt­text: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Trotzdem spüren wir, dass man so etwas einem behinderten Menschen nicht sagen darf und dass es irgendwie auch nicht stimmt: „Du sitzt nur im Rollstuhl, weil dein Glaube nicht groß genug ist.“ Da macht uns dieses Wort Jesu ratlos; vielleicht macht es uns sogar Angst. Da könnte irgendein frecher Zweifler kommen und uns beispiels­weise sagen: Bete doch mal darum, dass ich hundert­tausend Euro geschenkt bekomme. Du glaubst doch, und Jesus hat gesagt: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Oder ein hoffnungs­los kranker Mensch bittet uns um Fürbitte und erwartet, dass er nun schnell wieder gesund wird; wir beten zwar, aber wir zweifeln daran, ob der Erfolg wirklich so prompt eintrifft. „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt“ – das ist irgendwie ein un­behagliches Wort; es kann uns selbst in Zweifel und Anfechtung führen.

Wie gehen wir damit um? Wir halten uns an Martin Luthers alt­bewährten Kernsatz zum Bibel­verständnis: „Die Schrift legt sich selbst aus.“ Wer einzelne Verse richtig verstehen will, der darf sie nicht aus dem Zusammen­hang reißen, sondern der muss sie vom umgebenden Text her verstehen und von der Lehre der ganzen Heiligen Schrift her. Diese Erkenntnis ist übrigens so alt wie die Bibel selbst; ebenso wie die Erkenntnis, dass sogar der Teufel Bibelverse aus dem Zusammen­hang reißen, verdrehen und den Menschen um die Ohren schlagen kann. Wer einen Topflappen sieht, der weiß deswegen noch lange nicht, was in einer Küche gemacht wird. Ebenso versteht derjenige Gottes Wort noch lange nicht, der nur ein paar vereinzelte Bibelverse kennt.

Sehen wir uns also den Zusammen­hang an, in dem Jesus das Wort gesagt hat: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Jesus hatte sich mit drei Jüngern vom Rest seiner Nachfolger vorüber­gehend entfernt. Als er zu ihnen zurück­kommt, erlebt er ein riesiges Durch­einander. Vornehme jüdische Theologen schreien seine Jünger an; die schreien zurück – und das alles in einer aufgeregten Menschen­menge, die wie ein Bienenstock summt und schwirrt. Als die Leute merken, dass Jesus erscheint, stürzen sie zu ihm hin und begrüßen ihn hastig. Jesus fragt: „Was ist hier los, und warum streitet ihr euch?“ Da drängelt sich ein Mann nach vorn. Aufgeregt stammelt er: „Mein Sohn – ich habe meinen Jungen zu deinen Jüngern gebracht. Er ist behindert, man kann sich nicht mit ihm unter­halten. Er kann nichts verstehen und sagt auch nichts. Und manchmal kriegt er Anfälle, das ist dann ganz schlimm. Er knirscht dann immer mit den Zähnen, kriegt Schaum vor dem Mund und verkrampft sich am ganzen Körper. Ich dachte, deine Jünger können ihm vielleicht helfen, aber das konnten sie nicht.“ Da wird Jesus ärgerlich und sagt zu seinen Jüngern: „Un­gläubiges Volk! Wie lange soll ich denn noch bei euch sein, bis ihr endlich begreift? Holt den Jungen her.“ Man schiebt den Sohn des Mannes durch die Menge zu Jesus. In dem Moment bekommt der Junge wieder einen Anfall und wälzt sich am Boden. Jesus fragt den Vater: „Wie lange geht das schon so mit ihm?“ Der Vater antwortet: „Von klein auf. Manchmal war es richtig lebens­gefährlich, wenn er ins Wasser oder ins Feuer fiel. Wenn du ihn heilen kannst, Jesus, dann lass uns nicht im Stich, hilf uns!“ Jesus erwidert: „Was heißt ‚wenn du kannst‘? Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Darauf schreit der Vater: „Ich glaube ja – hilf meinem Unglauben.“ Da wendet sich Jesus dem Jungen zu und heilt ihn, macht ihn dauerhaft gesund. Zu Hause fragen die Jünger Jesus: „Warum konnten wir ihn denn nicht gesund machen?“ Da antwortet Jesus: „Solche Heilung geht nur mit Beten.“

„Mit Beten“, das heißt: Wenn man Gott darum bittet. Wer heilt also? Nicht der Glaubende mit seiner Glaubens­kraft, sondern Gott. Der Glaubende bittet lediglich Gott darum im Gebet. Das Gebet aber ist der Audruck einer Beziehung: Der Betende ist mit Gott verbunden, er gehört zu Gott und pflegt diese Beziehung durch das Gespräch des Glaubens. Das Gebet ist eine Beziehung des Vertrauens, und solches Vertrauen ist nichts anderes als der Glaube, wenn man ihn recht versteht. Es hieße den Glauben falsch verstehen, wenn man ihn für eine Zauberkraft hielte, wenn man meinte, je stärkeren Glauben einer hat, desto mehr Macht hat er, nach Belieben Wunder zu tun.

Der Verlauf der Geschichte macht das alles ganz deutlich: Die Jünger konnten den kranken Jungen nicht heilen, weil kein Mensch einen so schwer Behinderten gesund machen kann. Das Problem der Jünger bestand darin, dass sie dieses Unvermögen nicht erkannten, den Glauben mit einer Zauberkraft ver­wechselten und dachten: Mal sehen, ob wir so viel geistliche Potenz besitzen, dass wir dem Mann helfen können. Unglaube nennt Jesus solche Selbst­überschätzung; das ist das Gegenteil von dem, was Glaube wirklich ist.

Der Vater konnte seinem Jungen auch nicht helfen; wie gesagt, kein Mensch kann das. Im Unterschied zu den Jüngern wusste der Vater das aber und suchte deshalb Hilfe bei anderen – zuerst bei Jesu Jüngern, dann bei Jesus selbst. Und in dieser Situation sagt Jesus ihm: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Der Mann sieht sich durch dieses Wort über­fordert; er möchte gern glauben, er hat da ein Fünkchen Hoffnung, dass Jesus ihm helfen kann, aber er sieht doch zugleich, dass er nicht genug geistliche Potenz hat, um den Jungen selber gesund zu machen. „Hilf meinem Unglauben“, setzt er darum seine Rede fort. Gerade damit aber zeigt er, dass er den richtigen Glauben hat – den Glauben, von dem die Bibel auch sonst redet: keine große Zauber­kraft, sondern ein demütiger Glaube, ein Erkennen der eigenen Hilf­losigkeit, zugleich aber ein Hilferuf zu Jesus. Hier zeigt sich der Glaube als Beziehung, als flehendes Gebet.

Dieser schwache, hin- und her­gerissene, hilflose und bei Jesus Hilfe suchende Glaube ist es, der bei Gott hoch im Kurs steht. Im 34. Psalm heißt es: „Der Herr ist nahe denen, die zer­brochenen Herzens sind, und hilft denen die ein zer­schlagenes Gemüt haben.“ Bekannt ist auch das Wort des Propheten Jesaja: „Da geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen“ (Jes. 42,3). So wird der Sohn geheilt. Nicht die Jünger heilen ihn, nicht der Vater, nicht der Glaube der Jünger (denn sie haben den rechten Glauben noch gar nicht gefunden) noch der Glaube des Vaters (denn er ist ein schwaches Hin- und Her­gerissen­sein zwischen Glaube und Unglaube). Nein, Jesus heilt den Behin­derten. Jesus heilt ihn, weil Jesus Gottes Sohn ist, weil somit Gottes Schöpfer­macht in ihm wohnt. Und wenn wir es von Jesu mensch­licher Natur aus sehen (wie er sich selbst oft als Mensch seinem Vater im Himmel gegenüber gesehen hat), so können wir sagen: Weil er alles Heil und alle Hilfe von seinem Vater erhofft, weil sein Glaube, seine Vertrauens­beziehung zu ihm vollkommen ist, weil er ganz eins ist mit dem Vater, darum wird seine Bitte erhört, und Gott heilt den Jungen. Nicht der Glaube heilt, sondern Gott heilt; aber der Glaube eint mit Gott.

„Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt“ – wissen wir jetzt, wie es gemeint ist? Wenn jemand sagt: „Du musst nur an das glauben, was du dir vorgenommen hast, dann schaffst du es auch!“, dann hat er vom christ­lichen Glauben keine Ahnung. Der Christ weiß, dass er selbst nichts schafft, dass er hilflos ist. Aber er weiß durch den Glauben, dass er zu Gott gehört, weil Jesus ihm die Schuld vergeben hat und weil er ihn mit dem Vater im Himmel versöhnt hat. So weiß der Christ, dass er mit Jesus zu Gott gehört, zu der wunder­vollen Einheit des Gottes­reiches, zu dem einen Leib der christ­lichen Kirche. Und er weiß schließ­lich, dass der Vater im Himmel allmächtig ist. So – und nur so! – vermag auch er alles. Aus diesem Grund wird ein Christ nicht eigen­mächtig oder un­verzüglich Heilung sehen und Wünsche erfüllt bekommen wollen, sondern er wird den eigenen Willen dem göttlichen Willen unter­ordnen. „Dein Wille geschehe“, so lautet die Hauptbitte des reifen Glaubens. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2005.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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