Gottes unfassbarer Wille: unschuldig hingerichtet

Predigt über Jesaja 53,7‑10a zum Karfreitag

Seine Folterun­gen / erträgt er widerstands­los
und bleibt stumm wie ein Lamm vor der Schlach­tung, / wie ein Schaf vor der Schur.
Durch ein Fehl­urteil / stirbt er gewaltsam –
aber wen kümmert es, / dass man ihm sein Leben nimmt?
Weil Gottes Volk gesündigt hat, / empfängt er den Todesstoß:
Bei Sündern findet er sein Grab, / bei Übeltätern den Tod.
Er hat nichts Böses getan / und nichts Schlechtes gesagt;
vielmehr ist es Gottes Wille, dass er leidet, / wenn er sich als Schuldopfer darbringt.

Liebe Brüder und Schwestern in Christus!

Die Kreuzigung war eine grausame Todes­folter. Sie zielte darauf ab, dass der Gekreuzigte möglichst langsam und unter großen Qualen starb. Widerstands­los und ohne Protest ließ Jesus alles über sich ergehen. So hatte es bereits der Prophet Jesaja Jahr­hunderte zuvor voraus­gesagt: „Seine Folterungen erträgt er widerstands­los und bleibt stumm wie ein Lamm vor der Schlach­tung, wie ein Schaf vor der Schur.“ Und das, obwohl Jesu Todesurteil in keiner Weise gerecht­fertigt war. „Durch ein Fehlurteil stirbt er gewaltsam – aber wen kümmert es, dass man ihm sein Leben nimmt?“ – „Er hat nichts Böses getan und nichts Schlechtes gesagt.“

Heute wird niemand mehr zur Kreuzigung verurteilt. Überhaupt ist die Todesstrafe in vielen Ländern ab­geschafft. Das hat unter anderem den Grund, dass niemand mehr durch ein Fehlurteil unschuldig sein Leben verlieren soll. Aber heißt das, dass heutzutage Menschen­leben vor will­kürlicher Gewalt verschont bleiben? Kommt wirklich kein Un­schuldiger mehr um?

Keineswegs. Bei den Bomben­attentaten, von denen wir fast täglich in den Nachrichten erfahren, sterben immer wieder Un­beteiligte. In der Republik Kongo sind in den letzten zehn Jahren beinahe unbeachtet von den Massen­medien sage und schreibe fast vier Millionen Menschen gewaltsam umgekommen – mehr als die Stadt Berlin Einwohner hat! Darunter viele Frauen, Kinder und friedlich gesinnte Bürger, Un­schuldige. Ja sogar in Deutschland werden jährlich zahlreiche Menschen umgebracht, ohne dass sie irgendwem etwas getan hätten: Ich denke an die über hundert­tausend Kinder, deren Leben noch vor ihrer Geburt unter einem Schein des Rechts ausgelöscht wird. Unsere Zeit ist keineswegs besser als die Jahr­hunderte und Jahr­tausende davor.

Nun könnten wir Jesus einfach als Beispiel sehen für unschuldig erlittene Folter, für unschuldig erlittenen Tod. Er ragt als Sinnbild des gequälten Un­schuldigen heraus aus dem sta­tistischen Meer der Millionen, denen man Gewalt angetan hat. Und so wird der Tod Jesu ja auch häufig gedeutet. Blieben wir bei dieser Deutung allerdings stehen, dann würden wir etwas Wesent­liches übersehen. Achten wir noch einmal darauf, was der Prophet Jesaja über den leidenden Gottes­knecht geweissagt hat: „Weil Gottes Volk gesündigt hat, empfängt er den Todesstoß: Bei Sündern findet er sein Grab, bei Übeltätern den Tod. Er hat nichts Böses getan und nichts Schlechtes gesagt; vielmehr ist es Gottes Wille, dass er leidet, wenn er sich als Schuldopfer darbringt.“

Die Sünde der Menschen, Gottes Wille zur Passion seines Sohnes Jesus Christus, der Tod Christi als Schuldopfer – das sind die Stichworte, die das Wesentliche über Jesus aussagen. Das ist das ganz andere Licht, das Gottes Wort auf das Geschehen von Golgatha wirft, und in diesem Licht erkennen wir weit mehr als den Foltertod eines Un­schuldigen.

Gottes Volk hat gesündigt, so lautet das durch­gehende Urteil der Bibel. „Es gibt keinen Menschen, der nicht sündigt“, steht im Alten Testament (2. Chronik 6,36). „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, dann betrügen wir uns selbst“, heißt es im Neuen Testament (1. Joh. 1,8). Sünde ist Aufbegehren gegen Gott und seine Gebote. Wer sich selbst oder irgend etwas anderes im Leben wichtiger nimmt als Gott, der hat damit schon das erste Gebot übertreten: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ – „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“ Und wer in seinem Denken, Reden und Handeln die eigenen Interessen und Bedürfnisse über die Interessen und Bedürfnisse anderer Menschen stellt, der verfehlt die von Gott gebotene Nächsten­liebe: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Die von Gott verhängte Strafe ist hart und deutlich: „Der Sünde Sold ist der Tod“ (Römer 6,23). Nur aus dem Grund müssen wir einmal sterben, weil wir Sünder sind. Wir erkennen: Mit Ausnahme von Jesus stirbt eigentlich niemand unschuldig. Egal ob jemand ermordet wird oder sich im Kissen eines Pflegeheims den letzten Atem holt, nach Gottes Maßstäben ist die Strafe so und so verdient. Und wer wollte es wagen, hier andere Maßstäbe anzulegen als Gottes Maßstäbe?

Aber Gottes Gesetz und seine harte Strafe über die Sünde ist nicht alles, was er uns in der Bibel offenbart. Wir erfahren auch, dass seine Liebe größer ist als sein Zorn. Wir erfahren – und das ist die beste und wichtigste Bot­schaft – , dass diese Liebe ihn zu einem un­fasslichen Erlösungs­werk getrieben hat. Er fasste den Entschluss, seinen eigenen Sohn Mensch werden zu lassen, damit dieser die Menschen von Tod und Sünde erlöse. In diesem Plan hat der unschuldige Foltertod am Kreuz einen ent­scheidenden Platz. Das ist Gottes Wille zur Passion Christi, den bereits Jesaja geweissagt hat. Und diesem väterlichen Willen hat sich der Sohn klaglos ergeben, in Gehorsam und Demut. Wegen dieses väterlichen Willens hat Jesus alles über sich ergehen lassen, stumm wie ein Lamm vor der Schlach­tung, stumm wie ein Schaf vor der Schur.

„Es ist Gottes Wille, dass er leidet, wenn er sich als Schuldopfer darbringt“, so weissagte Jesaja. Zur Zeit des Alten Testaments wurden Lämmer ge­schlachtet und auf dem Opferaltar verbrannt, um damit Schuld von Menschen zu sühnen. Mit seinem Kreuzestod sühnte Jesus ein für alle Mal die Schuld aller Menschen. Er selbst wird das Schuld­opfer, er wird das Opferlamm, das die Sünden der Welt trägt. Willig wie ein Lamm vor der Schlach­tung, wie ein Schaf vor der Schur ertrug er am Kreuz Gottes Strafe für alle Sünden, stell­vertretend für die ganze Menschheit, stell­vertretend auch für jeden von uns. Das ist das Wesent­liche, was es von Jesu Tod zu sagen gibt; das unter­scheidet ihn von allem anderen un­schuldigen Leiden und Sterben in der Welt.

Liebe Brüder und Schwestern, es gibt viele Menschen, denen dies völlig un­begreiflich und anstößig erscheint, ja auch ungerecht: dass da der einzige Unschuldige stell­vertretend für die Sünder leiden muss. Schon der Apostel Paulus hat das gewusst und gemeint: „Die Botschaft vom Kreuz ist Unsinn für die Menschen, die verloren gehen. Wir aber, die wir selig werden, erkennen darin Gottes Macht und Gottes Weisheit.“ Ja, was nach mensch­lichen Maßstäben anstößig und unsinnig erscheint, ist in Warheit Gottes Weisheit, Gottes Gerechtig­keit und vor allem Gottes Liebe. Beim Schuldopfer des Gottes­lammes am Kreuz vermählt sich nämlich Gottes Gerechtig­keit mit Gottes Liebe: Gerecht ist er, weil er die Sünde nach seinem eigenen Gesetz mit der Todesstrafe sühnt. Liebevoll ist er, weil er nicht uns Sünder in den ewigen Tod verstößt, sondern durch den Glauben an Jesus den Weg ins ewige Leben eröffnet. Und angesichts dieses göttlichen Willens kann man nur staunen und anbeten und glauben und Jesus nachfolgen. Das ist die Kern­botschaft des Evan­geliums, die Kern­botschaft der ganzen Bibel, überhaupt Gottes Kern­botschaft für alle Menschen: Die Recht­fertigung des Sünders durch den Opfertod des Gottes­lammes.

Ein hoher Politiker war einmal in seinem Dienstwagen unterwegs und las dabei in der Bibel. Zufällig war er an Jesaja 53 geraten, an unseren Predigt­text. Und er war ein wenig ratlos, weil er nicht wusste, von wem denn da die Rede ist: Wer erträgt seine Folterungen widerstands­los? Wer stirbt gewaltsam durch ein Fehlurteil? Wer bringt nach Gottes Willen ein Schuldopfer dar? Da sah er einen Anhalter am Straßen­rand. Ganz gegen seine Gewohnheit ließ er den Wagen halten und nahm den Mann mit. Als der Anhalter sah, dass der vornehme Herr in der Bibel las, fragte er ihn direkt: „Verstehen Sie auch, was Sie da lesen?“ Der Politiker verneinte, und der Anhalter erklärte ihm die Stelle mit Jesus und dessen Tod am Kreuz – so, wie wir es eben bedacht haben. Der Politiker war beeindruckt und ließ sich den ganzen christ­lichen Glauben erklären. Gott öffnete ihm das Herz: Er wollte nun ein Christ werden, er wollte die Vergebung der Sünden, die Christus am Kreuz erwirkt hat, für sich persönlich zugeeignet bekommen. Er bekannte seinen Glauben, ließ den Wagen beim nächsten Gewässer halten und überredete den Anhalter, ihn zu taufen. Danach setzte er fröhlich seine Reise fort – in der frohen Zuversicht, durch Jesus nun ganz mit Gott im Reinen zu sein, in der frohen Zuversicht, dass der Tod nun nicht mehr das letzte Wort über ihn hat, sondern dass er danach Gottes Herrlich­keit sehen wird.

Der Politiker war ein Afrikaner, ein Äthiopier, und die Geschichte geschah vor 2000 Jahren, wenige Jahre nach dem Kreuzestod Jesu. Gott hat einen langen Atem und wirkt über Jahr­hunderte und Jahr­tausende. Was Jesaja im 8. Jahrhundert vor Christus weissagte, hat sich im Kreuzestod Jesu erfüllt. Die Wirkung des Kreuzes­todes hat danach unzähligen Menschen das Leben verändert, angefangen von Menschen wie diesem afri­kanischen Politiker bis hin zu uns heute, die wir hier 2000 Jahre später sitzen. Philo­sophien und Ideologien sind gekommen und gegangen, aber das Wort vom Kreuz wirkt fort. Es wird heute wieder auf der ganzen Welt verkündet. Und wer es im Glauben annimmt, wer sich von Jesus die Sünden vergeben lässt, der hat Frieden mit Gott und ewiges Leben. Der kann, vom Karfreitag herkommend, seine Staße fröhlich weiter­ziehen, wie es damals der hohe Politiker tat. Und der weiß: Wie Jesus dann am dritten Tag von den Toten auf­erstanden ist, so wird der Tod auch über ihn nicht das letzte Wort haben. Gott gebe, dass wir alle mit solchem Glauben von diesem Gottes­dienst und diesem Karfreitag aus weiter­gehen. Amen.

Diese Predigt wurde erstmals gehalten im Jahre 2005.

Autor: Pastor Matthias Krieser

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