Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Neulich sagte mir ein Gemeindeglied: Das Erntedankfest ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Früher sei es hier im großen Stil gefeiert worden, ebenso wie das jährliche Missionsfest. In diesem Jahr gebe es nur einen Predigtgottesdienst zu ungünstiger Zeit, meinte das Gemeindeglied etwas traurig. Recht hat der Mann; eigentlich gehört das Erntedankfest als festlicher Hauptgottesdienst gefeiert. Ich bitte euch um Entschuldigung, dass ich für heute vielleicht etwas voreilig noch eine Gottesdienstvertretung angenommen habe und deshalb den Gottesdienst so früh ansetzen musste. Ich verspreche, dass es im nächsten Jahr anders wird.
Das Erntedankfest ist nicht mehr das, was es einmal war – das gilt auch in anderer Hinsicht. Denn vielen Zeitgenossen bleibt der Dank für die Früchte des Feldes im Halse stecken, und ihnen fällt nur die Umweltverschmutzung ein sowie das verrückte Ungleichgewicht bei der Welternährung. Während anderswo Menschen verhungern, ist man bei uns froh für jede Tonne Weizen, jedes Schwein und jeden Liter Milch, die nicht produziert werden. Ich bin überzeugt davon, dass diese Probleme einen großen Teil der Predigten am heutigen Sonntag bestimmen. Es ist gut und wichtig, wenn man sich als Christ mit diesen Problemen beschäftigt und überlegt, was man zu ihrer Lösung beitragen kann. Trotzdem möchte ich diese Probleme heute bewusst außen vor lassen. Das hat nicht nur den Grund, dass ich von ökologischen Zusammenhängen wenig Ahnung habe, sondern es liegt auch daran, dass es heute in erster Linie um das Danken gehen soll. Schließlich feiern wir heute kein Erntebußfest und auch kein Ernteproblemfest, sondern das Erntedankfest. Auch meine ich, dass wir es bitter nötig haben, die alte Kunst der Dankbarkeit neu zu lernen.
Gottes ruft uns aus der Bibel zu: „Seid dankbar in allen Dingen, denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch!“ Das ist zweifellos ein Gebot. Die Dankbarkeit ist uns von Gott geboten. Daran erkennen wir, dass der Dank an Gott einen anderen Stellenwert hat als der Dank an Menschen. Unsere Mitmenschen freuen sich zwar über Dank, würden uns aber eher nicht gebieten: Nun sei mir mal schön dankbar! Unter Menschen ist das Danken nur dann eine gute Sache, wenn es freiwillig geschieht und wir dem andern damit eine Freude machen. Ein Dankeschön unter Menschen ist eine „Streicheleinheit“, wie man heute so schön sagt – also etwas, womit ich den andern aufrichten und im Tun des Guten bestärken will. Wenn wir Gott danken, dann ist das etwas anderes. Gott hat keine Streicheleinheiten nötig. Aber Gott gebietet uns zu danken. Warum? Aus demselben Grund, warum er uns auch andere Dinge gebietet: Um uns damit zu erfülltem Leben zu verhelfen. Gott gebietet uns zu danken um unserer selbst willen – genauso, wie er uns zu glauben oder zu beten oder das Abendmahl zu feiern gebietet. Gott hat nichts davon, wenn wir ihm danken, aber wir haben etwas davon. „Seid dankbar in allen Dingen, denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch“, heißt es. Gott will, dass ihm die Menschen dankbar sind, die durch den Glauben an Jesus Christus Gemeinschaft mit ihm haben. Diese Gemeinschaft lebt und steht in der Dankbarkeit. Wer Gott wenig oder gar nicht dankt, gefährdet diese Gemeinschaft. Wer dagegen viel dankt, der erfährt eine Bewusstseinsveränderung: Ihm werden immer mehr die Augen übergehen vor lauter Liebesbeweisen Gottes in seinem Leben, die er dankend erkennt. Darum: „Seid dankbar in allen Dingen.“
Vielleicht ist das Erntedankfest nicht mehr das, was es einmal war, weil wir nicht mehr richtig danken können. Grund zum Erntedank jedenfalls gibt es nach wie vor, eigentlich sogar viel mehr als früher. Gott schenkt den Früchten auf Feld und Baum nach wie vor Gedeihen. Es ist auch heute noch ein großes Wunder, wie aus dem kleinen Weizenkorn ein Halm wächst – erst grün, dann gelb – , um dann vielfältig Frucht zu bringen. Gott lässt alles wachsen, was wir zum täglichen Brot nötig haben. Er gibt auch das richtige Wetter. Danken wir ihm doch für das Wetter, egal, wie es ist! Wie viel wird über das Wetter geschimpft. Mal ist es uns zu kalt, dann wieder zu heiß, zu feucht, zu trocken, zu windig, zu schwül… Selten scheint Gott es recht zu machen mit dem Wetter. Wisst ihr eigentlich, was es heißt, über das Wetter zu schimpfen oder zu klagen? Es ist eine Misstrauenserklärung gegen Gott! Es fehlt dann nämlich das Vetrauen, dass genau dieses Wetter gut und richtig ist, von Gott maßgeschneidert für diesen Tag und für diesen Ort. Gott macht keine Fehler, auch nicht beim Wetter. Danken wir ihm also dafür, auch wenn wir seine Wetterpläne nicht immer durchschauen! „Seid dankbar in allen Dingen.“
Außerdem wollen wir beim Danken nicht vergessen, dass Gott uns in der heutigen Zeit technische Möglichkeiten schenkt, um auch bei scheinbar ungünstigem Wetter noch gute Erträge zu bekommen. Es gibt Beregnungsanlagen für Felder; es gibt Beleuchtungseinrichtungen, mit denen auch noch bei Dunkelheit auf dem Feld gearbeitet werden kann. Ja, auch das sind Gaben Gottes, denn er gab den Entwicklungsingenieuren die Weisheit und mit seinen Naturgesetzen auch die Vorraussetzungen für die entsprechenden Maschinen; auch dies sollen wir in unsern Erntedank einschließen. „Seid dankbar in allen Dingen.“
Wollen wir in allen Dingen dankbar sein, dann dürfen wir nicht bei der Landwirtschaft stehenbleiben. Das Einbringen der Früchte des Landes kann uns vielmehr Anstoß sein zu größerer Dankbarkeit an jedem Tag, den wir erleben. Jeden Tag beschert Gott jedem von uns eine große Ernte – das tägliche Brot mit allem, was unter diesen Begriff gefasst werden kann. Gott deckt uns den Tisch und macht uns satt. Wir sind so reich, dass wir uns mit viel Fleisch, exotischen Früchten und mancher Leckerei sättigen können. Sind auch unsere Tischgebete entsprechend reich an Dank? Oder vergessen wir den Dank ab und zu? Oder haben wir uns das Tischgebet schon völlig abgewöhnt?
Aber nicht nur für das Essen sind wir Gott Dank schuldig. Während früher die Menschen mit harter Arbeit kaum Nahrung und Kleidung erwarben, bleibt den meisten von uns noch viel übrig von der Ernte unseres Lebens. Wie reichlich sind wir zum Beispiel mit Kleidung eingedeckt! Dankst du Gott dafür? Für das neue Paar Schuhe, den neuen Mantel, die neue Bluse? Dankst du ihm für dein schönes bequemes Bett und für deine gut geheizte Wohnung? Ich muss gestehen, ich habe es bisher auch nicht getan. Dankst du ihm dafür, dass Strom aus deiner Steckdose kommt, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche? Dankst du ihm dafür, dass dir warmes und kaltes Wasser ohne Mühe sogleich zur Verfügung steht? Wie schwer hatte es da noch die Generation unserer Urgroßeltern; wieviel mehr Grund zu danken haben wir! Dankst du ihm für die kleinen täglichen Freuden, für den Blumenstrauß, die Praline, die lustige Fernsehsendung, den lieben Brief? Dankst du ihm dafür, dass du Arbeit hast? Für deine Gesundheit? Für die lieben Menschen um dich herum? Für deine Kirchengemeinde? Wir sollten uns mindestens einmal am Tag Zeit nehmen und innehalten, um für den reichen Segen zu danken, den Gott über uns kommen lässt. Wie reich ist unsere tägliche Ernte!
Zu besonderen Gelegenheiten sollten wir einen besonderen Dank zum Himmel aufsteigen lassen, vielleicht mit schönen Lobliedern. Wenn du eine Urlaubsreise antrittst – beginne und beschließe sie mit Dankgebeten! Wenn du ein neues Auto kaufst, danke Gott für dieses wunderbare Gabe; wieviel Bewegungsfreiheit, wieviel Bequemlichkeit, wieviele Möglichkeiten schenkt er dir damit! Wenn du gar dein eigenes Haus beziehen kannst, dann feiere ein großes Dankfest! Gott beschenkt dich überreichlich. Wie groß ist unsere Ernte! „Seid dankbar in allen Dingen.“
In allen Dingen? Und was ist mit den bitteren Erfahrungen? Was ist, wenn Gott unseren Erntekelch mit Wermut füllt statt mit Wein? Wenn Krankheit, Leid und Schicksalsschläge kommen? Sollen wir ihm etwa auch dafür danken? „Seid dankbar in allen Dingen“, sagt Gott ausdrücklich. Ja, auch für die Ernte an schweren und notvollen Dingen sollen wir ihm danken. Als die holländische Christin Corrie ten Boom mit ihrer Schwester Betsie im KZ saß, war sie zuerst entsetzt darüber, dass ihre Schwester sogar für die Wanzen in den Betten dankte. Bis ihre Schwester erklärte: Warum, meinst du, kommen die Aufseherinnen nicht in unseren Schlafraum und stören unsere Bibelarbeiten? Nur wegen der Wanzen! Wer für das scheinbar Negative dankt, erfährt, dass Gott ihn auch darin beschenkt. Als Christen wissen wir ja, dass „denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“ (Römer 8,28) – selbst Wanzen und Krankheit und Schicksalsschläge. Mein Großvater hatte Kinderlähmung und war an der linken Hand von klein auf gelähmt. Er war für diese Behinderung dankbar, weil sie ihm den Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg ersparte und er bei seiner Familie bleiben konnte. Ja, auch für deine Krankheit und deine Behinderung kannst du Gott danken, weil dir wirklich alle Dinge zum Besten dienen. Auch wenn jemand stirbt, den du sehr liebtest, kannst du Gott danken: dafür, dass ihr ein gutes Stück Lebensweg gemeinsam gehen durftet, und dafür, dass er nun am Ziel ist. „Seid dankbar in allen Dingen.“
Wenn du dankst, statt zu schimpfen oder zu klagen, dann wirst du erkennen, wie gut es Gott auch noch im Leid mit dir meint. Wenn du krank bist, kannst du ihm für Ärzte und Medizin danken. Wenn du arbeitslos wirst, kannst du ihm für das Arbeitslosengeld danken. Ja, selbst wenn es so weit kommen sollte, dass du wirtschaftlich total ruiniert bist – ist es nicht großartig, dass wir in einem Staat leben, wo es eine wirtschaftliche Grundsicherung gibt und wo auch der größte Pechvogel nicht ums tägliche Brot fürchten mus? Wie gut haben wir es doch; wie viel besser als unzählige andere Menschen auf der Welt! Wie reich ist unsere Ernte! Wir könnten gar nicht mehr aufhören zu danken, wenn wir wirklich ganz ernst machten mit diesem Gebot: „Seid dankbar in allen Dingen.“
Lasst uns täglich reichlich danken! Danken öffnet den Blick für Gottes Segen. Danken macht zufrieden. Danken bindet uns an Gott. Danken erfüllt mit großer Freude darüber, wie gut wir es hier auf Erden haben. Diese Freude kann und soll zur Vorfreude werden für jene Welt, in der es uns noch besser gehen soll, in der die Ernte noch größer sein wird. „Ach, denk ich, bist du hier so schön / und lässt du mir's so lieblich gehn / auf dieser armen Erden, / was wird doch wohl nach dieser Welt / dort in dem schönen Himmelszelt / und güldnen Schlosse werden?“ Dass Gott uns durch Jesus Christus dorthin bringt, das ist und bleibt unser größter Anlass zum Danken. Amen.
PREDIGTKASTEN |