Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Normalerweise ziehen wir das Licht der Finsternis vor. Besonders in der dunklen Jahreszeit freuen wir uns über jede Kerze und jedes Licht. Aber es gibt Situationen, in denen ist Licht nicht beliebt, ja, in denen scheuen Menschen geradezu das Licht. Wenn man sehr früh morgens im Bett liegt und noch halb schläft, und dann kommt jemand und knipst das große Licht an, empfinden wir das zunächst als unangenehm. Wir blinzeln dann, oder wir verkriechen uns unter der dunklen Bettdecke. Aus Spielfilmen kennen wir auch folgende Situation (hoffentlich nur aus Spielfilmen): Da wird ein Beschuldigter von der Polizei verhört, und zu diesem Zweck strahlt man ihn mit einer Schreibtischlampe an. Das ist unangenehm, nicht nur für die Augen. Der Verhörende will damit zum Ausdruck bringen: Jetzt wird das Verhalten des Verdächtigen genau durchleuchtet; nichts wird mir verborgen bleiben, kein noch so kleiner dunkler Fleck auf der weißen Weste. Oder denken wir an das grelle Neonlicht über dem Behandlungsstuhl eines Zahnarztes ober über einem Operationstisch: Das alles sind Lichter, die uns eher unangenehm sind.
Wenn in der Bibel von Gottes Licht inmitten der Finsternis unserer Welt die Rede ist, dann empfinden wir das normalerweise als erfreulich und tröstlich. Aber manchmal kann auch Gottes Licht so unangenehm werden wie das Lichtanschalten beim morgendlichen Aufwachen, die Schreibtischlampe beim Verhör oder die grelle Operationsleuchte. Das ist immer dann der Fall, wenn wir ein schlechtes Gewissen haben und uns schämen. Manche Taten, Worte und Gedanken möchten wir am liebsten nicht nur vor unseren Mitmenschen verstecken, sondern auch vor Gott. Keiner möchte gern von ihm ertappt werden; keiner möchte gern an Gottes Gegenwart denken, wenn er merkt, dass sein Verhalten nicht in Ordnung ist. Keiner – auch nicht der an sich so fromme David, der den 139. Psalm gedichtet hat. Am Anfang bezeugt er, dass Gott ihn völlig durchschaut; Gott kennt alle seine Gedanken, Wege und Worte. Diese Erkenntnis wird David zu schwer, er kann sie nicht ertragen. Darum möchte er am liebsten weglaufen; er möchte vor Gottes Allgegenwart und Allwissenheit fliehen. Aber wohin? Am besten dahin, wo es dunkel ist und Gott ihn nicht sehen kann. Er möchte gewissermaßen vor Gottes Schreibtischlampe fliehen, die ihm anklagend ins Gesicht scheint und sagt: Bin ich dir wirklich wichtiger als alles andere im Leben? Und ist dir das Wohlergehen deiner Mitmenschen wirklich ebenso wichtig wie dein eigenes Wohlergehen? Liebst du den Herrn von ganzem Herzen, und deinen Nächsten wie dich selbst? Ja, vor diesem Licht von Gottes anklagender Schreibtischlampe möchte David fliehen, und wir wollen das manchmal auch. Es ist so, wie wenn man sich am frühen Morgen vor dem hellen Zimmerlicht unter der Bettdecke verkriechen will. Aber geht das überhaupt: Sich vor Gott und dem Licht seines Angesichts zu verstecken, wenn es einem unangenehm wird?
David bekennt weiter: „Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.“ Das bedeutet: Verstecken ist zwecklos. Wo wir meinen, dass wir in der Finsternis untertauchen können, da kann Gott immer noch sehen. Gott hat sozusagen ein Nachtsichtgerät. So ein Nachtsichtgerät ist eine beachtliche Erfindung: Auch wenn es nachts so dunkel ist, dass man die Hand nicht vor Augen sieht, kann man durch dieses Gerät wie durch ein Fernglas plötzlich alles ganz klar erkennen, als wäre es in helles Mondlicht getaucht. Eigentlich ist es dunkel, aber das Nachtsichtgerät macht unsichtbare Strahlen sichtbar. So ist das auch bei Gott: „Finsternis ist wie das Licht.“ Wer meint, dass er sich mit seinen bösen Gedanken, Worten und Taten vor Gott verstecken kann wie im Dunkeln, der soll wissen: Für Gott ist es gar nicht dunkel, sondern Gottes Licht erreicht ihn auch in der vermeintlichen Finsternis.
Verstecken ist zwecklos, Gott sieht alles! So kann man die Wahrheit dieses Schriftworts zusammenfassen. Was aber hilft uns diese Wahrheit? Sie hilft uns nicht, das beklemmende Gefühl loszuwerden, dass Gott mit seiner Verhör-Schreibtischlampe unser Leben durchleuchtet. Diese Wahrheit sagt nur: Du kannst dich dem nicht entziehen, so sehr du es auch versuchst. Aber nun wechseln wir das Bild und denken an die OP-Lampe. Auch sie kann Beklemmungen auslösen, und auch sie deckt alles schonungslos auf. Aber wir wissen: Das schadet uns letztlich nicht, sondern im Gegenteil: Das hilft uns. Unter dem hellen Schein der OP-Leuchte kann der Chirurg genau sehen, was bei uns nicht in Ordnung ist, um es dann in Ordnung zu bringen. Mit diesem Bildwechsel wird klar, was Gottes eigentliche Absicht ist: Er will uns nicht mit dem Licht seiner Gebote grell anleuchten wie mit der Schreibtischlampe des Verhörers, um uns dann der gerechten Strafe zuzuführen. Vielmehr will er uns mit dem Licht seiner Gebote grell anleuchten wie mit der OP-Lampe eines Chirurgen, um eine genaue Diagnose zu stellen und um dann seine Therapie zu beginnen.
Was das praktisch bedeutet, sehen wir an Johannes dem Täufer. Ihm, dem Wegbereiter beim Kommen des Herrn, ist ja der heutige dritte Adventssonntag besonders gewidment. Johannes der Täufer war ein kräftiger Bußprediger. Johannes war gewissermaßen Gottes Nachtsichtgerät, mit dem auch die dunkelsten Seelenwinkel der Menschen schonungslos ans Licht kamen. Im Namen Gottes diagnostizierte Johannes die tödliche Sündenkrankheit seiner Zeitgenossen. Er tat es aber nicht, um ihnen vor Augen zu führen: Ihr seid hoffnungslose Fälle. Nein, im Gegenteil, er tat es, um ihnen vor Augen zu führen: Es besteht Hoffnung für euch. Die Hilfe steht schon vor der Tür. Es ist Jesus, das Gotteslamm, das der Welt Sünde trägt. Bereitet euch auf sein Kommen vor und nehmt seine Hilfe an! Macht nicht immer so weiter wie bisher, sondern ändert euch, tut Buße und lasst diesen großen Arzt an euch heran, damit er euch heilen kann! Bereitet dem Herrn den Weg! Zum Zeichen dafür, dass dieses grelle Diagnose-Licht von Gottes Gesetz nicht ärgern, sondern helfen will, taufte Jesu Wegbereiter alle Menschen, die zur Umkehr bereit waren. Man nannte ihn darum bald Johannes den Täufer. Seine Taufe war ein Zeichen für das unmittelbar bevorstehende Kommen des Heilands.
„Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht.“ Das helle Licht der Gegenwart Gottes scheint auch in unserem Leben. Wenn wir es uns mit unseren kleinen oder auch großen Sünden bequem gemacht haben, dann stört dieses Licht die Bequemlichkeit, und wir sind versucht, uns wie unter einer Bettdecke zu verstecken. Das ist aber ein hoffnungsloser Versuch, denn Gott sieht uns mit seinem Licht immer noch sehr gut – auch dann, wenn wir meinen, die Finsternis würde uns vor ihm verbergen. Darum ist es besser, wenn wir diese Tatsache einfach anerkennen – aber nicht zähneknirschend wie ein notwendiges Übel, sondern freudig wie eine hilfreiche Diagnose. Wir sollen denen gleichen, die sich von Johannes dem Täufer gern die Leviten lesen ließen. Wir sollen denen gleichen, die gern dem Herrn Jesus Christus den Weg bereiten, damit er bei uns einzieht und uns von unserer Sündenkrankheit heilt. Dann wird das helle Licht seines Wortes zum Heilsbringer – gewissermaßen zur OP-Leuchte, unter der der große Chirurg unsere Sündenschuld erkennt, sie wegoperiert und uns so das Leben rettet. Ja, er rettet uns zum ewigen Leben; das Licht steht als Zeichen dafür. Wenn wir das bedenken, wie könnten wir dann noch meinen, Gottes Licht sie etwas unangenehm Störendes? Amen.
PREDIGTKASTEN |