Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Meine Mutter erzählt manchmal nicht ohne Stolz davon, wie sie für unerwartete Gäste ein „Speisungswunder“ veranstaltet hat. Sie meint damit, dass sie von den schmalen Vorräten aus Kühlschrank und Keller eine schön angerichtete, abwechslungsreiche und ausreichend große kalte Platte gezaubert hat; die Gäste freuten sich und wurden satt. Nun wird allerdings jeder Christ einschließlich meiner Mutter zugeben, dass zwischen dieser gastgeberischen Meisterleistung und der Speisung der 5000 durch Jesus doch gewaltige Unterschiede bestehen und dass das Wort „Speisungswunder“ daher für Ersteres nur im übertragenen Sinn gelten kann. Denn dass da bei Betsaida ein richtiges göttliches Wunder passiert ist, davon bin ich überzeugt. Die Menschen hatten wirklich nur fünf Brotfladen und zwei Fische zur Verfügung; sie wurden wirklich alle satt; die Reste füllten wirklich zwölf Körbe. Aber eine Gemeinsamkeit besteht doch: In beiden Fällen ging es darum, in einem Haushalt unerwartete Gäste zu bewirten. Jesus und seine Jünger lebten ja wie eine Familie, wie ein Haushalt zusammen, mit gemeinsamen Mahlzeiten und gemeinsamer Kasse – auch wenn sie keinen festen Wohnsitz hatten. Jesus hatte nach anstrengenden Tagen vorgehabt, sich mit seinen Jüngern in die einsame Gegend von Betsaida zurückzuziehen, damit man mal unter sich war und damit man viel Zeit hatte zum Beten und Ausruhen. Aber eine große Menschenmenge war Jesus und seinen Jüngern nachgezogen und überfiel diese „Familie“ gewissermaßen mit ihrem Besuch. Jesus erwies sich als guter Gastgeber, ließ die Leute zu sich kommen und gab ihnen das, was sie bei ihm suchten: Er redete mit ihnen von Gott, er heilte die Kranken und er gab ihnen schließlich auch zu essen. Das ist die zeitlos gültige Hauptbotschaft dieser Geschichte: Jesus hilft allen, die zu ihm kommen, und macht sie satt. Das dürfen wir auch noch heute von Jesus wissen und glauben: Jesus hilft allen, die zum ihm kommen, und macht sie satt. Aber wie er die Leute satt macht, das verdient genauere Beachtung. Und darin erkennen wir drei Grundzüge bei der Bewirtung von unerwarteten Gästen, die noch heute bemerkenswert sind – sowohl in wirklichen Haushalten als auch in der „Familie“ der christlichen Gemeinde und Kirche. Diese drei Grundzüge heißen Verpflichtung, Verlegenheit, Vertrauenssache.
Also erstens die Verpflichtung. Als die Leute bei Jesus hungrig wurden, wollten die Jünger sie einfach wegschicken. Sie wollten sich der Gastgeberpflichten schnell entledigen – wie eine Hausfrau, die hofft, dass ungeladene Gäste möglichst schnell wieder verschwinden, spätestens vor der nächsten Mahlzeit. Aber Jesus sagte seinen Jüngern: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Das ist eine allgemeine Verpflichtung für Jünger Jesu; Gottes Wort erinnert uns vielfältig daran: „Speist die Hungrigen!“, heißt es, und: „Seid gastfreundlich!“ Wenn wir wirklich Christen sein wollen, kann uns der Hunger anderer Menschen nicht egal sein – nicht nur der Hunger nach Lebensmitteln, sondern auch der Hunger nach anderen wichtigen Dingen, zum Beispiel der Hunger nach Trost und Zuwendung. Der Auftrag Jesu „Gebt ihr ihnen zu essen!“ bezieht sich auf die hungrigen Nächsten, also auf diejenigen Menschen, die gerade jetzt in unserer Nähe sind und die gerade jetzt unsere Hilfe brauchen. Ich weiß, es gibt auch den sogenannten „fernen Nächsten“, der möglicherweise noch viel hungriger ist; den sollen wir auch nicht vergessen. Aber es besteht die Gefahr, dass wir uns einen Nächsten nach unserem Geschmack heraussuchen, vielleicht ein schwarzes Kind mit traurigen Augen, auf dem Reklamefoto einer Hilfsorganisation, in sicherem Abstand von uns lebend, wo wir dann bequem eine Spende überweisen oder eine Einzugsermächtigung erteilen können. Das ist nicht verkehrt; nur hüten wir uns davor, über den fernen Nächsten den nahen Nächsten zu vergessen: den Menschen, der wirklich an unserer Wohnungstür klingelt oder der bei uns anruft und der uns mit seiner Notlage nervt. Ich kenne das aus eigener Erfahrung, sowohl als Familienvater als auch als Pastor: dass zum Beispiel ausgerechnet jemand dann meine Hilfe braucht, wenn ich gerade mal für eine kleine Weile nur für meine Familie da sein will. Oder dass Menschen zu unserer Gemeinde stoßen, die nicht unserem Wunschbild entsprechen die zum Beispiel, anstatt Gemeindebeitrag zu zahlen, noch Geld benötigen; oder die, statt im Gottesdienst den Gemeindegesang zu stärken, eher störend auffallen. Trotz allem bleibt die Verpflichtung unseres Herrn Jesus Christus: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Helft den Menschen, die bei euch Hilfe suchen – auch wenn sie unerwartet kommen, oder sogar ungelegen.
Nun will ich mal annehmen, dass wir dieser Verpflichtung auch nachkommen wollen, dass wir also unserem Nächsten wirklich helfen wollen. Jedoch geschieht es dann, dass ein großes Aber aufsteht: „Ich will ja helfen, aber ich kann nicht!“ Damit sind wir beim zweiten Grundzug der Bewirtung unerwarteter Gäste, das ist die Verlegenheit. Diese Verlegenheit, dieses „Wir können nicht!“, haben auch die Jünger damals vor der Speisung der fünftausend Leute ganz stark gespürt, und das war wohl auch der Grund, warum sie die Leute schnell wieder loswerden wollten. Als Jesus sie an ihre gastgeberische Verpflichtung erinnerte, erwiderten sie: „Wir haben nicht mehr als fünf Brote und zwei Fische, es sei denn, dass wir hingehen sollen und für alle diese Leute Essen kaufen.“ Das war natürlich eine völlig unmögliche Möglichkeit, denn das hätte ihre finanziellen Mittel hoffnungslos überfordert! Aber was waren schon fünf Brotfladen und zwei Fische angesichts tausender von Menschen? Das war nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein! Die Verpflichtung, die ungebetenen Gäste alle angemessen zu bewirten, überforderte die Jesus-Familie also hoffnungslos; sie brachte sie in große Verlegenheit. Solche Verlegenheiten kennen auch wir nur allzu gut. Da wenden sich Menschen an uns und bitten um Hilfe, aber wir haben nicht, was sie brauchen. Wir haben nicht genug Geld, wir haben nicht genug Zeit, wir haben nicht genug Kraft, wir haben nicht genug Nerven. Wir würden liebend gern helfen, aber wir können es einfach nicht, wir sind hoffnungslos überfordert. Auch ich kenne diese Verlegenheit aus eigener Erfahrung sehr gut, und zwar wiederum sowohl als Familienvater als auch als Pastor. Ich merke, dass ich mit meiner Familie anderen nicht in der Weise familiäre Nestwärme vermitteln kann, wie es in anderen Pastorenhaushalten gelingt. Und ich merke auch, wie unsere Gemeinde und unsere ganze Kirche weder genug finanzielle Mittel hat noch genug Personen, um die Liebe Jesu Christi in dem Maße in unserem Umfeld weiterzugeben, wie es wünschenswert wäre. Ja, unsere Verlegenheit ist groß, wenn wir helfen wollen, das empfinden wir nicht anders als die Jünger damals vor der Speisung der Fünftausend.
An dieser Stelle wollen wir ganz genau darauf achten, wie Jesus selbst mit der Verlegenheit umgeht. Er ist ja sozuagen der Hausvater in der Jüngerschar, der Verantwortliche. Jesus lässt sich durch die offensichtliche Verlegenheit nicht entmutigen. Gegen den äußeren Anschein entwickelt er Zuversicht: Er lässt seine Gäste Platz nehmen, so, als könnte er ihnen sogleich eine ausgiebige Mahlzeit servieren. Da sind wir beim dritten Grundzug der Bewirtung unerwarteter Gäste, und den erkennen wir am Verhalten Jesu selbst: Bewirtung ist Vertrauenssache. Dieses Vertrauen ist keine Sorglosigkeit und auch nicht einfach positives Denken, es ist kein Selbstvetrauen und nicht einfach Optimismus, sondern dieses Vertrauen beruht auf dem innigen Verhältnis zum Vater im Himmel. Jesus hat das ganz klar gezeigt: Da sitzen tausende von hungrigen Menschen im Gras, da liegen fünf Brotfladen und zwei Fische vor ihm, und was tut er? Er sieht auf zum Himmel. Er ist in diesem Augenblick ganz bei seinem Vater. Nicht die Verlegenheit bestimmt ihn in diesem Augenblick, auch nicht die Sorge darum, ob er der Verpflichtung als Gastgeber gewachsen ist, sondern allein das Vertrauen zu seinem Vater. Er blickt auf gen Himmel und betet. Er spricht ein Tischgebet, ein Dankgebet. Und dann beginnt er das Brot zu brechen und lässt die wenigen Lebensmittel austeilen, und da geschieht das unfassliche Speisungswunder. Es ist eine Vertrauenssache: Gegen den äußeren Anschein vertraut Jesus seinem himmlischen Vater und befiehlt ihm die Sache im Gebet an, und der himmlische Vater lässt seinen eingeborenen Sohn nicht im Stich. So kommt es, dass er alle satt machen kann. Liebe Gemeinde, diese Geschichte ist keine Garantie dafür, dass der himmlische Vater uns aus all unseren Verlegenheiten mit Wundern heraushilft. Ein göttliches Wunder ist immer eine große Ausnahme, sonst wäre das Wunder kein Wunder mehr. Aber der himmlische Vater kennt viele Weisen, uns aus unseren Verlegenheiten herauszuhelfen und uns zu befähigen, anderen zu helfen und andere satt zu machen. Oft geschieht es viel langsamer und unspektakulärer als beim Speisungswunder, aber es geschieht. Das Entscheidende ist, dass auch wir aus unseren Verlegenheiten eine Vertrauenssache machen. Dass wir nicht aufgeben, nicht abstumpfen, aber auch nicht leichtsinnig oder zu selbstbewusst werden. Es kommt darauf an, dass wir zum Himmel aufsehen, wo unser wahrer Vater wohnt, dass wir mit ihm reden, dass wir ihn bitten, dass wir ihm danken. Wer ein guter Gastgeber sein will oder ein guter Hausvater, der muss also wissen: Ich gehöre zu einem größeren Haushalt, und das ist Gottes Haushalt, das ist Gottes Reich. Da ist der himmlische Vater der Hausvater. Und zu seiner Rechten regiert sein eingeborener Sohn, mein Herr Jesus Christus. Das ist der, der keinen nach Hause schickt, wenn er Hilfe sucht. Das ist der, der mit fünf Broten und zwei Fischen tausende satt machen kann. Das ist der, der Milliarden von Menschen die Sünden vergibt. Das ist der, der sogar die Macht des Todes gebrochen hat mit seiner Auferstehung. Ja, zu diesem großartigen Haushalt gehöre ich und werde ich für immer gehören. Wenn ich mir das bewusst mache, wird mein Vertrauen stark – auch das Vertrauen, dass ich selbst andere bewirten und ihnen helfen kann trotz aller Verlegenheiten – als einzelner Christ, in meiner Familie und in meiner Gemeinde. Amen.
PREDIGTKASTEN |