Liebe Brüder und Schwestern in Christus!
Vierzig Tage Fastenzeit, ausgenommen die Sonntage – so bereitet sich die Christenheit schon seit vielen Jahrhunderten auf das Osterfest vor. Vierzig Tage lang in der Wüste fasten – so hat sich der Gottessohn auf seinen Verkündigungsdienst und sein Heilswerk vorbereitet. Vierzig Tage lang auf dem Berg Sinai fasten – so hat Mose das Gesetz in Empfang genommen und aufgeschrieben, mit dem Gott seinen Bund mit dem Volk Israel befestigt hat. Dass sowohl Mose als auch Jesus vierzig Tage lang gefastet haben, ist kein Zufall, sondern es ist vom himmlischen Vater weise bestimmt worden. Er hat damit Mose und Jesus einander gegenübergestellt und in eine Beziehung gesetzt – den Mittler des alten Bundes und den Mittler des neuen Bundes. Der alte Bund gründet auf dem Gesetz, der neue Bund auf Jesu Opfergang ans Kreuz. Der alte Bund war ein Bund für das Volk Israel, der neue Bund ist ein Bund für alle Völker der Erde. Der alte Bund war an die Bedingung der Gesetzeserfüllung geknüpft, der neue Bund schenkt dem Glaubenden Gottes Gerechtigkeit aus lauter Gnade und Barmherzigkeit. Der alte Bund hat geringere Herrlichkeit als der neue Bund, wie auch Mose, der Mittler des alten Bundes, nur ein sündhafter Mensch war, Jesus aber, der Mittler des neuen Bundes, wahrer Gott und wahrer Mensch, ohne Sünde und ohne Fehler. Der Evangelist Johannes hat es so ausgedrückt: „Das Gesetz ist durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus geworden“ (Joh. 1,17).
Wir haben in der letzten Passionsandacht gesehen, dass Fasten ein Verzicht auf Essen, Trinken und anderes ist und dass solcher Verzicht dazu dient, sich ganz auf das Gespräch mit Gott zu konzentrieren. Wie wir das bei Jesus in der Wüste festgestellt haben, so können wir es auch bei Mose feststellen. Denn die vierzig Tage auf dem Berg Sinai dienten ja der intensiven Begegnung mit Gott. In dieser Zeit hat ihm Gott nicht nur die Zehn Gebote gegeben, sondern er hat ihn auch das ganze Gesetz gelehrt, das bis in Einzelheiten hinein Israels Leben vor Gott und als Volksgemeinschaft ordnen sollte. In seiner vierzigtägigen Fastenzeit hat Mose gut zugehört und alles genau aufgeschrieben; wir können es noch heute in den Mosebüchern nachlesen.
Mose hat das nicht aus persönlichem Ehrgeiz oder zur Selbstfindung getan, sondern schlicht im Gehorsam gegenüber Gottes Auftrag, zu Nutz und Vorteil des Volkes, das ihm zur Führung anvertraut worden war. Wir sehen also: Mose hat für andere gefastet und dieses intensive Gespräch mit Gott geführt. Und damit wird sein Fasten zugleich zum Sinnbild für das Verzichten zu Gunsten anderer ganz allgemein. Denn der Dienst und Verzicht des Mose für andere ist ja keineswegs auf diese vierzig Tage auf dem Berg Sinai beschränkt. Vierzig Jahre lang hat er die Israeliten in der Wüste geführt und dabei auf viel mehr verzichten müssen als auf ausreichend Essen und Trinken. Auf ein Zuhause hat er verzichten müssen, das er doch erst nach langen Umwegen bei seinem Schwiegervater Jetro gefunden hatte. Auf seine Bequemlichkeit hat er verzichten müssen, war er doch von morgens bis Abends mit den Führungsaufgaben für Israel mit Beschlag belegt. Auf Anerkennung hat er verzichten müssen, wurde er doch ständig von seinen eigenen Leuten kritisiert und beschimpft. Und auf seine Seelenruhe hat er verzichten müssen, brachte ihn die Not seines Auftrags doch immer wieder in schwere Gebetskämpfe vor Gott. Das ganze letzte Drittel von Moses Leben war ein einziges „Fasten“, ein einziger Verzicht für andere, nämlich für Gottes Volk Israel. Die vierzig Tage Fasten auf dem Berg haben das zeichenhaft deutlich gemacht.
Und so sollen wir auch das Fasten Jesu verstehen: Nicht nur als eine Vorbereitungszeit und eine Zeit geistlicher Sammlung, sondern auch als ein Zeichen für seinen gesamten Auftrag. Denn eigentlich war ja das ganze Erdenleben Jesu ein einziges Fasten, ein einziger Verzicht zugunsten anderer. Er hat für diese Zeit auf die Herrlichkeit des Himmels verzichtet. Und als Mensch hat er auf königliche Ehre und königlichen Reichtum verzichtet, wiewohl er doch ein König ist. Ganz besonders aber zeigt sich sein Verzicht zugunsten anderer in seiner Passion, in seinem Leiden und Sterben. Auf Ruhe und Schlaf hat er verzichtet in der Nacht, da er gefangen genommen und verhört wurde. Auf sein Recht hat er verzichtet, als er zu den falschen Anklagen schwieg, die man vorbrachte. Auf seine Ehre hat er verzichtet, als man ihn verspottete und anspuckte. Auf seine körperliche Unversehrtheit hat er verzichtet, als man ihn auspeitschte. Auf einen machtvollen Befreiungsschlag hat er verzichtet, als man ihm zurief, er solle doch vom Kreuz heruntersteigen, wenn er Gottes Sohn ist. Auf seinen Seelenfrieden hat er verzichtet, als er auskostete, was es heißt, von Gott verlassen zu sein. Auf seine Unsterblichkeit hat er schließlich verzichtet, als er sein Leben als Lösegeld für uns arme Sünder dahingab. Für uns hat Jesus verzichtet, für uns hat er gefastet, für uns hat er sich aufgeopfert, für uns hat er sich dahingegeben. „Tauend-, tausendmal sei dir, liebster Jesu, Dank dafür.“
Liebe Brüder und Schwestern, ich habe vor einer Woche davon gesprochen, dass wir vor allem dafür die Fastenzeit nutzen wollen: dass wir das intensive Gespräch mit unserem himmlischen Vater pflegen und das Bild des leidenden Gottessohnes recht tief in unser Herz einprägen. Aber auch bei uns kann das Fasten in der Fastenzeit zum Zeichen dafür werden, dass wir zugunsten anderer verzichten. Denn wir sind ja aufgefordert, Jesus nachzufolgen und das Kreuz aufzunehmen. Das schließt die Bereitschaft ein zu verzichten, wo wir unserem Nächsten helfen können – so wie Mose verzichtet hat zugunsten des Volkes Israel und so wie Jesus Christus verzichtet hat zugunster aller Menschen der Erde.
Da liegt es zum Beispiel nahe, auf die eine oder andere schöne Sache zu verzichten, die man sich gern kaufen würde, und das Geld für Hungernde und Bedürftige zu spenden. Ich freue mich darüber, dass wir beim letzten Weihnachtsfest in der Gemeinde wieder eine stattliche Summe für „Brot für die Welt“ zusammenbekommen haben; aber so ein Verzicht und Opfer ist nicht nur zu Weihnachten sinnvoll. Und wenn wir an den sogenannten „fernen Nächsten“ denken, nämlich die Hungernden und Bedürftigen in anderen Ländern, dann sollten wir den nahen Nächsten nicht übersehen – denjenigen zum Beispiel, der nach Zuwendung hungert, nach Gemeinschaft, nach einem guten Wort, einem hilfreichen Rat oder auch praktischer Hilfe. Gott möge uns die Augen öffnen, dass wir das nicht übersehen und dann auch gern auf unsere Bequemlichkeit und auf Zeit für uns verzichten zugunsten des anderen. Schließlich kann auch bei uns das Fasten zur Konzentration auf's Gespräch mit Gott ein Verzicht zugunsten anderer sein, wenn wir uns nämlich reichlich Zeit nehmen zur Fürbitte – nicht nur allgemein für Kranke und Hungernde, sondern ganz gezielt und namentlich für Personen, deren Not wir gesehen haben. Wenn wir diesen weiten Blick bekommen, dann merken wir: Fasten sollte niemals nur ein Verzicht zum eigenen Vorteil sein, für das eigene körperliche und geistliche Wohlbefinden, sondern immer auch zugunsten des Nächsten geschehen. Wenn wir das bei unserem Fasten und in dieser Fastenzeit berücksichtigen, folgen wir dem Beispiel des Mose und unseres Herrn Jesus Christus, dem Mittler des alten Bundes und dem Mittler des neuen Bundes. Gott lege darauf seinen Segen und gebe zum Wollen auch das Gelingen. Amen.
PREDIGTKASTEN |